Elizabeth Wetmore
Wir sind dieser Staub
„Und wie sterben die Frauen? Normalerweise, wenn Männer sie umbringen.“ Nicht Klapperschlangen oder Skorpione sind für Frauen im Westen von Texas am gefährlichsten, sondern gewalttätige Männer.
Wechselnde Perspektiven
Die 14jährige Gloria flüchtet, schwerverletzt und mehrfach von einem jungen Ölarbeiter vergewaltigt, zum Farmhaus von Mary Rose, die selbst schwanger und Mutter einer Tochter ist. Sie hält den Angreifer in Schach und ruft die Polizei, bevor sie dem mexikanischen Mädchen Schutz gewährt:
„Aus ihren Haaren und von ihrem schmutzigen Gesicht stieg ein Heiligenschein aus Staub auf. Ganz kurz war sie eine Wolke, ein hilfloser Sandsturm, ein Windstoß, der um Gnade fleht.“
Der bevorstehende Ölboom zieht gewalttätige Männer an, verspricht Reichtum und zerstört zugleich die Arbeit vieler Rancher, deren Rinder verrecken. Die wechselnden Perspektiven von sieben Frauen in der Kleinstadt Odessa, von Glory und Mary Rose, der früheren Lehrerin Corinne, die nach dem Tod ihres Mannes Vergessen im Suff sucht, bis zur zehnjährigen Debra Ann, deren Mutter die Familie verließ, entwerfen ein schonungsloses Bild von Sexismus und Rassismus in der Kleinstadt Odessa. „Corrine hält es für ein verdammtes Wunder, dass manche junge Frauen es tatsächlich lebendig aus Odessa hinausschaffen“, sie hält sich trotz ihrer tiefen Trauer um Potter, den Veteran des Koreakriegs aufrecht, beißt die Zähne zusammen und ist mit zarten Fädchen der gegenseitigen Hilfe mit den anderen Frauen verbunden.
Kathedrale aus Knochen
Für Mary Rose kauft sie ein oder bringt ihr die Aufläufe, die Suzanne Ledbetter, eine weitere Frau aus ihrem Umkreis für sie backt, denn Mary Rose wird im Prozess gegen den Vergewaltiger aussagen. Viele, sehr viele sind gegen sie, denn das geschundene Mädchen, das seither nur noch Glory genannt werden will und bei ihrem Onkel Schutz gesucht hat, ist, obwohl in den USA geboren, wegen ihrer mexikanischen Herkunft zum Opfer abgestempelt. Victor, Glorys Onkel, der in Vietnam für die USA kämpfte, ist sich der blutigen Geschichte der mexikanischen Zuwanderer in Texas bewusst:
„Aus den Skeletten unserer Vorfahren ließe sich ein Haus bauen, eine Kathedrale aus Knochen und Schädeln.“
Schwäche der Frauen
In der Schilderung des Prozesses macht Elizabeth Wetmore, die selbst aus Odessa, Texas stammt, sehr deutlich, wie und warum so viele Frauen in diesen 70er Jahren an den versteinerten Verhältnissen scheitern. Die Barfrau Evelyn, deren Stimme sie ihrem Chor von weiblichen Perspektiven hinzufügt, kennt die vielen Schattierungen männlicher Gewalt und ebenso die Schwäche der Frauen, die sehr weit in der Geschichte des Landes zurückreicht.
„Unsere Urgroßmütter haben Schwäche vorgeschützt, bis sie ihnen in Fleisch und Blut überging. Manche von uns leben bis heute so. Den Mund aufzumachen würde einen Mut voraussetzen, von dem wir nicht mal träumen.“
Die zehnjährige Debra Ann sehnt sich nach ihrer Mutter und ist ein abenteuerlustiges, belesenes Kind. Mit ihrer selbstverständlichen Hilfsbereitschaft und eigenwilligen Phantasie wird sie zum Gegenpol der Hoffnung auf ein mögliches anderes Leben, und ihre Mutter Ginny zahlt zwar einen hohen Preis, wählte aber immerhin einen eigenen Weg.
„Was für eine Frau lässt ihren Mann und ihr Kind im Stich? Eine Frau, die begriffen hat, dass der Mann in ihrem Bett, der sie versehentlich geschwängert hat, ein Junge ist und immer bleiben wird. Die den Gedanken nicht ertragen kann, eines Tages zu ihrer Tochter sagen zu müssen: Dies hier ist gut genug für dich.“
Geheime Allianzen
Nur wenigen gelingt die Flucht aus diesen harten und trostlosen Verhältnissen, doch Wetmore spiegelt ihre Überlebensgeschichten in bildhafter und poetischer Sprache in der gnadenlosen Schönheit des Landes. In poetisch inspirierter Sprache, unterlegt mit sarkastischem Humor, erkundet sie in ihrem fulminanten Debütroman die Schnittstellen von Gewalt, Herkunft und Klasse. Weit entfernt von gängigen Krimimustern entwickelt die Autorin ein fragiles Netz von geheimen Allianzen zwischen den Frauen, die in einem zutiefst ungerechten Kosmos anmaßender Männer nach Fluchtpunkten für körperliches und geistiges Überleben suchen.
(Lore Kleinert)
Elizabeth Wetmore, geboren in Texas/ USA, veröffentlichte 2020 mit 52 Jahren ihren ersten Roman „Valentine“, sie lebt in Chicago
Elizabeth Wetmore „Wir sind dieser Staub“
aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Eva Bonné
Roman, Eichborn Verlag, 322 Seiten, 22 Euro
eBook 14,99 Euro,
Platz 1 der Krimibestenliste Dezember 2021