Taylor Brown
Maybelline
“Der Tod herrschte über dieser Gegend wie ein eigenes Wesen, Tausende von Splittern und Flusen desselben schrecklichen Geistes, die nach Zugang suchten, nach einer Verletzung oder Charakterschwäche. Sobald man sie in sich hatte, wurde man sie nur schwer wieder los.“
Einträgliches Geschäft
Ein Roman wie ein Patchwork-Quilt, gewebt aus Gewalt, Tod, Erinnerungen und Träumen: Kriegsveteran Rory kehrt 1951 aus dem Koreakrieg, Amerikas 'vergessenem Krieg‘ zurück zum Howl Mountain in den Appalachen North Carolinas. Sein Holzbein enthält ein 'nützliches Geheimnis', sein Auto, ein aufgemotztes Ford Coupé, heißt wie seine Großmutter, Maybelline. Mit ihm schmuggelt er Whiskey, ein einträgliches, aber von Clans umkämpftes Geschäft, gegen das die Bundespolizei immer härter zu Felde zieht. Granny May, die ihn großgezogen hat, ist eine magiebegabte und heilkundige Frau Anfang fünfzig, deren Interesse an Sex noch längst nicht erloschen ist. Früher verdiente sie ihr Geld im Bordell, und ihre Tochter, Rorys Mutter, wurde vergewaltigt und lebt verstummt in einer Heilanstalt, - ein Trauma, das Enkel und Großmutter keine Ruhe lässt und vor allem Rory antreibt, die Wahrheit darüber herauszufinden.
“Die ganze Vergangenheit schien so zu sein, konstruiert aus blassen Blaupausen, die nur darauf warteten, dass der falsche Wind wehte. Eine Geschichte, die man mit einem einzigen Tritt an den richtigen Balken oder Pfosten zum Einsturz bringen konnte, eine Konstruktion aus Asche und Rauch.“
Brutstätte der Gewalt
Taylor Brown erweckt das Ambiente des bergigen Südens zu Beginn der fünfziger Jahre zu reichem Leben, bestens recherchiert und mit ausgeprägtem Gefühl für die seelischen Blessuren der Menschen in dieser entlegenen Region, mit ihrer prachtvollen, gefährdeten Natur und den halbvergessenen Mythen und Geheimnissen auf den Knochen von indianischen Ureinwohnern und Bürgerkriegssoldaten. Die Fabrikstadt am Fuße der Berge mit ihren Bordellen und Baumwollfabriken ist eine Brutstätte der Gewalt, vor der Granny May ihren kriegsversehrten Enkel zu schützen sucht, mit durchaus ironischem Blick auf die Machowelt der Schmuggler und Sheriffs. Brown gelingen immer wieder großartige, treffende Bilder, die er aus widersprüchlichen Facetten zusammenfügt:
“End-of-the-Road war im Tageslicht ein seltsamer Ort, an dem die nächtlichen Sünden wie bei Ebbe zum Vorschein kamen. Entlang der gesamten Straße lagen die Opfer zusammengerollt auf Rücksitzen oder lehnten mit geöffneten Mündern, deren Atem kleine Wolken an den Fenstern bildeten, an Seitenscheiben. Sie waren eingeschlafen, während sie nach ihrem Schlüssel, dem Anlasser, dem Schalthebel oder dem Innenbeleuchtungsknopf getastet hatten, sich ihre Augenlider in Zeitlupe bewegt hatten, ihre Körper sich schwer anfühlten, als wären sie auf dem Meeresgrund.“
Toxische Männerbünde
Auch die Nebenfiguren sind detailliert gezeichnet und originell, zum Beispiel die junge Frau, in die sich Rory verliebt: Christine, Tochter eines exzessiven Predigers, der mit Klapperschlangen hantiert, und zugleich Hutmacherin, die mithilfe ihrer Entwürfe die Fabrik hinter sich lassen will. Wie groß die Chance für einen Alkoholschmuggler ist, mit ihr eine Zukunft zu erobern, bleibt offen, denn alle anderen Konflikte verbinden sich zu einem temporeichen und spannenden Szenario. Doch gerade die Frauen spielen in der engen Welt toxischer Männerbünde eine besondere Rolle, die der Autor differenziert und vielschichtig schildert. Damit ermöglicht er einen reichhaltigen Blick auf eine der vielen vergessenen und heruntergekommenen Regionen der USA und es gelingt ihm, daraus eine große zeitlose Geschichte zu machen.
“Rory überlegte, was er zu Christine sagen würde, doch die Worte wollten ihm nicht einfallen. Sie waren wie unförmige Steine in seinem Mund. Manche Dinge waren einfach zu groß, um sie auszusprechen. Zu schrecklich oder zu schön. Keine Worte wären ihnen gerecht geworden. Schweigen allein schien das Richtige zu sein.“
(Lore Kleinert)
Taylor Brown, *1982 in Georgia, US-amerikanischer Schriftsteller
Taylor Brown “Maybelline“
aus dem Amerikanischen von Susanna Mende
Kriminalroman, Polar Verlag 2021, 416 Seiten, 14 Euro