Julia Phillips
Das Verschwinden der Erde
„Wie einfach es wäre, sich mitnehmen zu lassen. Das Auto würde sie so schnell nach Hause bringen, dass vor dem Abendessen noch Zeit für einen kleinen Imbiss wäre. Ähnlich wie Tiere im Zoo füttern und gruselige Geschichten erzählen, wäre es ein weiterer Nervenkitzel am helllichten Tag, ein Zeichen des Ungehorsams in den Sommerferien, ein Geheimnis zwischen Sofija und ihr.“
Subtile Gewalt
Zwei Mädchen, die acht und elf Jahre alten Golosovskaya-Schwestern Aljona und Sofia, werden an einem sonnigen Augusttag ins schwarzglänzende Auto eines Fremden gelockt – und verschwinden, ein Nervenkitzel mit weitreichenden Folgen. Was im Jahr danach geschieht, entfaltet sich wie in einem Kaleidoskop: Jedes Kapitel blendet Monat für Monat in die Leben unterschiedlicher Frauen, in denen die Entführung wie ein fernes Echo nachhallt. Sie alle leben auf der Halbinsel Kamtschatka im äußersten Osten Russlands, und Unterströmungen subtiler Gewalt, Frauenverachtung und schmerzhafter Abhängigkeit sorgen ebenso wie komplizierte Verwandtschaftsbeziehungen für unerwartete Verbindungen.
Schwierige Beziehungen
Marina, die Mutter der Mädchen, wird von Panikattacken und Atemnot heimgesucht, und als sie fast ein Jahr später als Journalistin zu einem Festival der kulturellen Minderheiten der Region mitfährt, hat sie kaum mehr Hoffnung, ihre Töchter wiederzufinden. Kyusha, die Studentin aus Esso, versucht, ihre schwierigen Beziehungen zwischen zwei Männern auszutarieren, während Natashas Schwester vor Jahren rätselhaft verschwand, ihr Bruder Tschegga, ein Fotograf, Zusammenhänge herstellt, und Rewmira ihre beiden verlorenen Ehemänner betrauert.
„Nach Glebs Unfall dachte sie, dass auch sie sterben würde. Sie glaubte, dass sie gestorben war. Dieses Datum hatte ihn ihr geraubt und sie niedergeschlagen, Trauer als Schwerkraft definiert. Jetzt aber würde sie leben. Es blieb ihr nichts anderes übrig. Es war das, was sie tat: leben, wenn andere es nicht konnten. Es war keine Freude.“
Spuren der Gewalt
Die Geschichten stehen für sich, ein Monat – ein Schicksal, und sie erzählen von Enttäuschungen, verpassten Chancen, verlorenen Illusionen, von Schmerz und Verlust. Julia Phillips, die Kamtschatka und die dort lebenden Menschen russischen und indigenen Ursprungs in jahrelangen Recherchen kennenlernte, entwirft ein facettenreiches Bild über das Leben in einer überwältigenden Natur zwischen Pazifik und Vulkanen, heißen Quellen und verlassenen Fabriken. Der Untergang der Sowjetunion hat bittere Spuren latenter Gewalt unter der postsowjetischen Oberfläche hinterlassen, mehr noch als anderswo, denn Kamtschatka war zwischen 1945 und 1990 durch Militärrecht geprägt und vom Rest des Landes isoliert. Rassismus ist unter den Wissenschaftlern, Polizisten und Rentierhirten keineswegs überwunden, und die Spannungen zwischen Russen und Korjaken flammen immer wieder auf.
„Ich habe ‚Das Verschwinden der Erde‘ geschrieben, um Gewalt gegen Frauen in unterschiedlichen Facetten in der heutigen Welt darzustellen, weil ich es erstaunlich finde, wie sehr sich die Verletzungen ähneln, überlagern und uns verbinden.“ (Interview J. Phillips)
Zeuge sein
Weil die US-amerikanische Autorin brillant erzählt, sucht man weniger nach Hinweisen, ob das Verschwinden der beiden Mädchen durch die unterschiedlichen Perspektiven aufgeklärt werden kann, sondern folgt den Frauen – bis sich überraschende Wendungen auftun und den Fokus wieder auf die verschwundenen Schwestern richten. Ein außergewöhnlicher Thriller-Erstling über Russlands fernen Osten, der einen Kosmos von Frauen ganz nah heranrückt und zugänglich werden lässt. „Zeuge sein. Zusehen, wie das eigene Leben zerspringt.“
(Lore Kleinert)
Julia Phillips, *1988 in New Jersey, US-amerikanische Autorin, lebt in Brooklyn, New York
Julia Phillips „Das Verschwinden der Erde“
aus dem amerikanischen Englisch von Pociao und Roberto de Hollanda
Roman, dtv 2020, 375 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro