Marcie Rendon
Am roten Fluss
"Sei vorsichtig, was Du denkst. Deine Gedanken sind machtvoll. Sie können Wirklichkeit schaffen." Ein Sprichwort ihrer indianischen Ahnen, das die 19jährige Renee Blackbear, von allen nur Cash genannt, begleitet. Sie verdient ihr Geld mit Truckfahren und Poolbillard, trinkt und raucht und lebt allein.
Auf eigene Faust
"Schon vor Jahren waren ihr die Rituale des täglichen Lebens – Essen, Schlafen, Geborgenheit – langweilig geworden. Inzwischen aß sie, wann es ihr einfiel. Schlief, wenn sie schlafen musste. Und Geborgenheit? Hmmm. In den Jahren bei Pflegefamilien blieb ihr nichts, als sich Tag für Tag irgendwie durchzuschlagen. Sie war ganz gut geworden im Sich-Durchschlagen."
Die Erinnerungen an die vielen Pflegefamilien verfolgen sie, doch sie schüttelt sie ab, immer wieder. Sheriff Wheaton, der sie aus dem Auto ihrer betrunkenen und verunglückten Mutter zog, als sie drei war, ist ihr einziger Vertrauter. Als ein indianischer Landarbeiter ermordet aufgefunden wird, nimmt sie die Spuren auf und ermittelt auf eigene Faust, denn Cash hat tiefere Verbindungen zur spirituellen Welt der ersten Bewohner ihres Landes, auch wenn sie darauf gar nicht erpicht ist. Und sie nimmt Kontakt mit Frau und Kindern des Toten auf, die in der Red-Lake-Reservation ein hartes Leben führen.
"Von Zeit zu Zeit, nach Träumen wie diesem, wusste sie auf einmal, dass jemand gestorben war. Scheiße, sie konnte das nicht ausstehen. Sie kannte niemand sonst, der oder die von Leuten heimgesucht wurde, die tot waren oder gerade starben oder einfach mal so mit der Nachtluft vorbeischwebten."
Ohne Illusionen
Marcie Rendons erster Roman, nach vielen Gedichten und Stücken, bettet die Geschichte der jungen Indianerin Cash in die Region um Fargo und Morehead im Nordwesten von Minnesota ein, von der man seit dem Film "Fargo" eine lebhafte Vorstellung hat. Auf den weiten, fruchtbaren Feldern am Red River, deren Besitzer zumeist skandinavischer Herkunft sind, arbeiten die indianischen Landarbeiter neben den weißen Farmern und mexikanischen Wanderarbeitern, und seit dem Jahr 1970, in dem der Roman spielt, hat sich nicht allzu viel verändert. Cashs Blick auf die Verhältnisse ist illusionslos und pragmatisch, und die Autorin, selbst Stammesangehörige der Anishinabe White Earth Nation und Aktivistin für kulturelle Bildung der geschundenen Indianer, vermeidet alle Stereotypen oder Romantisierungen. Ihre Heldin ist beweglich, weil sie Außenseiterin ist und alle Seiten kennt, durch die Arbeit, das Spiel, das gemeinsame Saufen, den Sex. Und sie durchschaut Heuchelei und Anmaßung und kann sehr wütend werden.
"Jeder war hier ein Nachbar, ein Nächster zumindest im Sinne des Kirchenjargons. Sie tratschten und logen und schliefen mit den Frauen der anderen – und brachten sich gegenseitig um, wie es schien, doch gutnachbarliches Benehmen war immer noch der Standard, an dem sich alle maßen."
Unbestechlich und couragiert
Die Aufklärung des Mordes ist mit dem Schicksal der amerikanischen Ureinwohner und ihrer prekären Chancen untrennbar verbunden, und das ist ein großer Gewinn dieses außergewöhnlichen Kriminalromans, der überdies mit einer schönen, knappen und rhythmischen Sprache glänzt. Das politische Klima der Zeit der Vietnamkrieges, der latente und offene Rassismus in dieser entlegenen Region der USA wird plastisch geschildert, ebenso wie die Chancen, die sich bieten, wenn man so entschlossen, unbestechlich und couragiert ist wie Cash. Da sie klug ist, steht ihr – auf Betreiben ihres Mentors Wheaton - eine Collegeausbildung offen, und je mehr sie sich ihrer Wurzeln bewusst wird, umso größer sind ihre Chancen:
"Es war das Land, das Valley, dem sie sich verbunden fühlte. Das Land hatte sie nie verletzt oder im Stich gelassen. Es nährte und förderte sie, wie Menschen es niemals getan hatten. Sie hörte die Pappeln singen. Fühlte den Regen kommen, noch ehe die Wolken sich zeigten. Roch den Schnee, bevor er fiel."
Wie es mit ihr und einigen anderen Protagonisten um sie herum weitergeht, möchte man unbedingt verfolgen, und ich hoffe, Marcie Rendon lässt ihrem gelungenen Erstling weitere Bände folgen.
(Lore Kleinert)
Marcie Rendon, indianischer Abstammung, Schriftstellerin und Performancekünstlerin , kulturpolitische Aktivistin für indigene Künstler/innenförderung
Marcie Rendon "Am roten Fluss"
"Murder on the Red River" übersetzt von Laudan & Szelinski
Argument Verlag 2017, Ariadne Taschenbuch, 224 Seiten, 13 €
eBook 8,99 Euro