Sam Hawken
Kojoten
3.144 Meter ist sie lang, die Grenze zwischen Mexico und den USA, durch Zäune gesichert, bewacht von bewaffneten Einheiten und immer wieder überwunden von denen, die nichts vom Weg aus dem Elend ins 'Gelobte Land' abhalten kann. Wie viele von ihnen an dieser Grenze sterben, weiß niemand genau.
Letzte Würde
Die Polizistin Ana gehört zu den Texas Rangers, die mit den örtlichen Grenztruppen zusammen illegale Einwanderer aufspüren sollen. Auf einem ihrer Erkundungsritte entdeckt sie einen von hinten erschossenen Mann, und als Leserin teilt man ihr Entsetzen, weil die Leiche neben einem "Vergewaltigungsbaum" liegt, an dessen Ästen Frauenunterhosen hängen, Trophäen derer, die den flüchtenden Frauen auch noch die letzte Würde genommen haben. Ist der Tote ein Flüchtling, ein Drogenschmuggler oder ein 'Kojote', wie die Schleuser genannt werden?
Ungeklärte Morde
Sam Hawken, 1970 in Texas geboren, hat Geschichte studiert und schon seinen ersten Roman "Die toten Frauen von Suarez" mit scharfem Blick und genauer Kenntnis der Grenzregion Hunderten von unaufgeklärten Frauenmorden gewidmet. Sein Roman "Kojoten", in der amerikanischen Ausgabe 'La Frontera', ist wie ein Triptychon aufgebaut: Der Weg der Grenzpolizistin Ana berührt sich mit dem vom Ladenbesitzer Luis, der auf der mexikanischen Seite der Grenze, vor den Toren von Ojinaga, wohnt.
Sehnsuchtsorte
Ein ruhiger Mann, der herrenlosen Hunden ein Zuhause gibt, von der Ausrüstung lebt, die die Flüchtlinge für ihren gefährlichen Weg brauchen, und auf eine Zukunft mit Adriana hofft. Für ihn ist der Norden jenseits der Grenze kein Sehnsuchtsort:
"Er hatte so viele Menschen über den Fluss geführt, die alle auf ein besseres Leben hofften, und nie den Mut gehabt, ihnen zu sagen, was sie erwartete…Es war besser, sich hier südlich der Grenze den Lebensunterhalt zusammenzukratzen, als sich dem Leben im Norden auszusetzen. Davon war Luis überzeugt. Im eigenen Land musste ein Mexikaner sich nicht für seine Herkunft entschuldigen, in den USA würde man das tagtäglich von ihm erwarten."
Die andere Welt
Doch die Grenze bestimmt auch sein Schicksal: weil er früher einer der erfolgreichsten und erfahrensten Schlepper war, wird er vom örtlichen Drogenschmuggler gezwungen, sich noch einmal auf die Reise über den Fluss zu machen, mit einer Gruppe von Migranten, denen keine andere Wahl bleibt. Für Marisol aus einem Bergdorf von El Salvador bietet diese Gruppe die Chance, nach einer langen Reise auch noch diese Grenze zu überwinden. Die junge Frau hat Englisch gelernt und viele Jahre beharrlich gespart, um nach dem Tod ihrer Mutter "in eine andere Welt überzuwechseln".
Feindlicher Raum
Eindringlich beschreibt Hawken ihre Entschlossenheit und die unendlichen Mühen des Weges, den sie gehen muss. Die Parallelen zu Flüchtlingsschicksalen auf dem Weg nach Europa sind unübersehbar – hier bekommen sie das Gesicht einer Frau, deren bescheidene Wünsche sich in ihrer Heimat niemals verwirklichen ließen. Dem Schicksal von Frauen gilt Hawkes besondere Aufmerksamkeit auch diesmal: Auch die Polizistin Ana ist Gefangene einer Situation, die sie sich nicht ausgesucht hat, in einer Natur, die einen grandios feindlichen Resonanzraum abgibt:
"Hier draußen herrschte Totenstille. Das offene Land schluckte jedes Geräusch und gab nichts zurück. Sogar ein Schuss klang nicht mehr als nach einem zerbrechenden Ast und verflog. Wer den Himmel anrief, erntete nichts als gleißendes Blau."
Menschliche Gesichter
Man folgt den Erzählsträngen mit großer Spannung und Anteilnahme, denn Hawken nimmt sich die Zeit, diese drei Schicksale im Kopf des Lesers zu einem großen Panorama unserer Zeit zu verweben. Der Roman rückt die Atmosphäre in der Grenzregion greifbar nah, aus den unterschiedlichen Blickwinkeln, und er bietet die Chance, in der Abstraktion steigender Flüchtlingszahlen wieder in menschliche Gesichter zu blicken. Dass er sein Buch "den Migranten" widmet, ist auch Ausdruck des Wissens, dass Zäune nicht helfen und Grenzen immer einen zu hohen Preis fordern.
(Lore Kleinert)
Sam Hawken * 1970 in Texas, Historiker und US-amerikanischer Schriftsteller, lebt in Baltimore, Maryland
Sam Hawken "Kojoten"
"La Frontera" aus dem Amerikanischen von Karen Witthuhn
Polar Verlag Nov. 2015, 390 Seiten, 14,90 Euro
eBook 9,99 Euro