Elisabeth Herrmann
Der Schneegänger
Das Skelett eines Jungen wird im Wald gefunden – vier Jahre zuvor war das Kind entführt worden. Doch Kommissar Gehring vermutet wegen der Verletzungen des Jungen mögliche elterliche Gewalt. Weil die Eltern aus Kroatien kamen, zieht er seine junge Kollegin Sanela Beara hinzu.
Lauter Lügen
Die Mutter des kleinen Darijo hat ihren früheren Arbeitgeber, bei dem sie Hausangestellte war, inzwischen geheiratet, die erste Ehefrau ist fort, die beiden Söhne wohnen nicht mehr in der Villa, und die Ermittler sehen sich einem Geflecht aus Lügen und Ungereimtheiten gegenüber:
"Immer wieder Darijo. Seit seinem Tod steht hier kein Stein mehr auf dem anderen, mochten die Mauern dieses alten Hauses auch noch so unversehrt aussehen."
Glänzend konstruiert
Elisabeth Herrmann schickt ihre unkonventionelle Polizistin Sanela in diesem glänzend konstruierten Roman zum zweiten Mal ins Feuer – ursprünglich nur als Streifenpolizistin geplant, hat sie sich in diesem Buch wieder einen Platz als Protagonistin erkämpft. Als ihr Chef sie vom Fall abziehen will, schleicht sie sich in die Villa der schwerreichen Familie Reinartz, wo das Kind lebte und starb, als Putzfrau ein. Auch den Vater des toten Jungen lernt sie kennen, einen geheimnisvollen Mann, der als Wolfsforscher in Brandenburg arbeitet. Durch ihr beharrliches Nachforschen, für das nur ein kleines Zeitfenster zur Verfügung steht, werden die Verhältnisse zum Tanzen gebracht:
"Längst vergessene Dinge fielen einem wieder ein. Gefrorene Gefühle tauten auf. Menschen setzten sich in Bewegung. Die Angst ging um. Auf leisen Sohlen, wie ein verstohlener, unbeachteter Gast. Doch bald würde sie sich offener zeigen. Im Weg stehen."
Gewalt neben Luxus
Mit ihrer Heldin Sanela nimmt Elisabeth Herrmann die Leser mit ins Luxusambiente, das durch unterschwellige Gewalt getrübt ist, und in die kroatische Community, die ihre eigenen Geheimnisse und Regeln hat. Darijos Mutter Lida war in ihrer Heimat Agraringenieurin und musste die Familie als Putzfrau durchbringen, bis sie als Hausherrin in die Villa einzog – ihrer Trauer und auch der Bitterkeit ihres Mannes Darko gibt die Autorin Raum und eine fesselnde Sprache.
"Er geht weg von mir. Jeden Tag ein Stückchen mehr. Ich möchte ihn festhalten, aber es ist, als ob er immer heller und blasser würde, als ob er verschwindet, mitten in einer weißen Landschaft. Als ob er hinaus in ein weißes Nichts geht, bis er verschwunden ist. Ein Schneegänger."
Spiel mit Vorurteilen
Zugleich hält der Kriminalroman die Spannung bis zum Ende aufrecht: Wurde das Kind einem besseren Leben geopfert? Welche Rolle spielten die reichen Söhne, und wer misshandelte das Kind? Elisabeth Herrmann versteht es, mit Vorurteilen und Klischeevorstellungen zu spielen und tiefer zu schürfen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Und die junge Polizeimeisterin Sanela mit ihrer Aversion gegen unsinnige Regeln und ihrer Begeisterung für den attraktiven Wolfsforscher ist für die sehr erfolgreiche Autorin (u.a. Deutscher Krimipreis 2012) ein Gewinn.
(Lore Kleinert)
Elisabeth Herrmann *1959 in Marburg/Lahn, Fernsehjournalistin und Schriftstellerin, lebt in Berlin
Elisabeth Herrmann "Der Schneegänger"
Kriminalroman, Goldmann 2015, 448 Seiten, 19.99 Euro
eBook 15,99 Euro
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