Elisabeth Herrmann
Totengebet
Joachim Vernau, Elisabeth Herrmanns bewährter Berliner Anwalt, wird gleich zu Beginn niedergeschlagen, als er einem jüdischen Freund zu Hilfe kommen will. Die junge Frau aus Tel Aviv, die ihn begleitet hat, ist verschwunden, und nur sie kann bezeugen, dass nicht er der Angreifer des jüdischen Antiquars war.
Als Freiwilliger im Kibbuz
Wenig später stürzt sein Jugendfreund von seinem Balkon, kurz nachdem Vernau ihn aufgesucht hat, damit er bestätigt, dass Hooligans auf ihn losgingen. Um Rachel Cohen wiederzufinden, macht Vernau sich auf nach Israel – eine Reise in seine eigene Vergangenheit:
"Jechida. Ein Kibbuz in Israel, Ende der Achtziger. Ich war dort als volunteer, eine Art Freiwilligeneinsatz. Man konnte im Hühnerstall arbeiten, im Gewächshaus oder auf dem Bau."
Gedicht an die Mutter
Mit ihm waren drei junge Männer dort, der Antiquar Scholl, Mike Plog, Familienvater und rechtspopulistischer Politiker und Daniel, der seither verschwunden ist. Auf Plog wird ein Anschlag verübt, und Rachel Cohen ist Vernaus einzige Chance, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Doch ihre Suche gilt einer ganz anderen Wahrheit: Ihre Mutter Rebecca nahm sich nach ihrer Geburt das Leben, denn sie glaubte, der Vater des Kindes, einer der jungen Deutschen, habe sie sitzenlassen. Rachel will den Mann finden, von dem nur ein Gedicht an ihre Mutter blieb, eines der schönsten Gedichte der deutschen Romantik von Friedrich Rückert:
"Du bist mein Mond, und ich bin deine Erde/du sagst, du drehest dich um mich. Ich weiß es nicht, ich weiß nur dass ich werde/in meinen Nächten hell durch dich."
Suche nach Wahrheit
Elisabeth Herrmann lässt die Stimmung im Kibbuz, den es längst nicht mehr gibt, wieder aufleben: Dass eine junge Frau sich mit einem der deutschen Volunteers einließ, schien undenkbar, und die Tochter der schönen Siebzehnjährigen will nach dreißig Jahren endlich die Wahrheit über ihre Familie erfahren – Uri, der ihrer Mutter durch die Heirat die Schande ersparen wollte, die Stiefmutter, der sie fremd blieb, den, der ihre Mutter verließ. Und als sie in Deutschland erfährt, dass der verschwundene Daniel, der sich angeblich nach Korfu absetzte, ihr Vater war, spitzen sich die Dinge zu. Auch weil Vernau mit äußerster Hartnäckigkeit an der verschwiegenen Geschichte dranbleibt, denn sie lässt ihn die kurze Zeit im Kibbuz noch einmal erleben – doch nichts ist davon geblieben.
"Einzig um mir meinen Teil an dieser Geschichte schönzureden, habe ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen. Und weil es Momente gegeben hatte, in denen ich in Rachel ihre Mutter wiedererkannt hatte…Nie wieder lieben wir so groß und ernst wie in unserer Jugend. Vielleicht machte ich mir etwas vor, aber in diesem Moment glaubte ich an eine Brücke, über die man noch einmal zurück zu sich selbst gehen kann, zu dem Menschen, der man einmal war."
Analoges Leben
Mit Geschick und Spannung baut die Autorin die Irrtümer auf, die der Anwalt erkennen muss, und Bedrohung und Gewalt rücken immer näher und bringen den nachdenklichen Mann in immer größere Probleme. Psychologisch ist diese Figur wieder einmal stimmig, und weil seine Zweifel und Selbstzweifel ihn zu ungewöhnlichem Tatendrang antreiben, folgt man ihm gern – denn eigentlich ist Vernau einer der vielen, die in der digitalen Wirklichkeit unterfordert sind und sich nach etwas anderem sehnen.
"Manchmal sah ich mich als jemand, der mit Hut und Spazierstock durch die Straßen flanierte und das Gespräch vor einem Hauseingang oder in einem Caféhaus den E-Mails und Likes im Internet vorzog. Ein analoges Leben, mit echten Begegnungen und echten Gesprächen."
Dafür ist nun reichlich gesorgt. Seine vergleichsweise gesicherte Berliner Existenz lässt er in Israel weit hinter sich, angetrieben von der Frage, was er damals übersehen oder versäumt hat. Eine geschickt aufgebaute Geschichte mit einem Helden wider Willen, dem keine schmerzhafte Pointe erspart bleibt.
(Lore Kleinert)
Elisabeth Herrmann *1959 in Marburg/Lahn, war RBB-Fernsehjournalistin und ist erfolgreiche Krimiautorin, lebt in Berlin
Elisabeth Herrmann "Totengebet"
Kriminalroman, Goldmann, 488 Seiten, 9,99 Euro
eBook 8,99 Euro
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