Jan Costin Wagner
Sakari lernt, durch Wände zu gehen
"Kimmo Joentaa denkt über Impulse nach, letzte Impulse, Linien, die zusammenfinden, weil andere die eingeschlagene Richtung verlassen haben." Als sein Kollege Petri Grönholm an einem heißen Sommertag einen jungen Mann erschießt, wird Kommissar Joentaa in ein Netzwerk von Familien hineingezogen, dessen Impulse und Linien nur ganz allmählich ein Muster erkennen lassen.
Was nicht sein darf
Seinen Kollegen versucht er aufzufangen, indem er ihm nicht nur eine Zuflucht im eigenen Zuhause biete, sondern sich auf die Spur des nackten jungen Mannes setzt, der sich mitten im Brunnen auf dem Marktplatz von Turku mit einem Messer in Bewegung setzte.
"Ich habe keinen Jungen gesehen, keine Traurigkeit, keinen erkrankten Menschen, ich habe…gar nichts gesehen, ich habe ein Tier gesehen in dem Brunnen, das da nicht hingehört, ich habe etwas Böses gesehen, das nicht da sein darf, einen…Angreifer…"
Sakari Ekmann, der wunderschöne Bilder malte und sich in eine Phantasiewelt eingesponnen hatte, litt unter paranoiden Störungen, und seine Mutter, selbst Ärztin für Psychiatrie, konnte ihm nicht helfen. Ob er zu Gewalttätigkeit neigte, lässt Jan Costin Wagner bewusst offen und zeichnet stattdessen ein Bild zweier Nachbarfamilien, die durch den Verlust ihrer Kinder auf grausame Weise miteinander verstrickt sind. Vor Jahren verunglückte der damals Siebzehnjährige auf einer Motorradfahrt, und Emma, die Tochter der anderen Familie, kam dabei ums Leben.
Hoffen auf die Zukunft
Wagner lässt seinen sensiblen und eigenwilligen Ermittler behutsam vortasten, doch dann brennt das Haus von Emmas Familie ab, und der jüngere Bruder David verschwindet.
"Vielleicht ist das die Klammer, die alles bindet, denkt er. Ein Zuhause, das bedroht ist. Oder zerstört. Das nicht mehr da steht, wo es gestanden hat. Seit dem Tag, an dem Sakari, im Übermut, Motorrad gefahren ist, seit dem Tag, an dem Emma nur noch als Fee des frühen Morgens in seinen Gedanken lebte."
Die Eltern des toten Mädchens haben sich auseinander gelebt, denn während die Mutter mit dem Verlust nicht fertig wird und in der Vergangenheit verharrt, hat der Vater sein Leben als Pilot und Billard-Turnierspieler wieder aufgenommen und hofft auf eine Zukunft, die nicht kommt. Wagners Roman lässt die ungeheure Zerstörungskraft des Verlustes, und die Schmerzen, die er in ganz unterschiedlicher Weise auslöst, fast körperlich spürbar werden. "Alles auflösen, denkt Joentaa. Knoten lösen, Ordnung schaffen, alles auf den Kopf stellen. "
Ein hoher Preis
Vor allem die Kinder, die allein bleiben, bilden das geheime Zentrum dieses besonderen Kriminalromans, in dem es nicht um die Aufklärung eines Verbrechens geht, sondern um die Frage, um welchen Preis Menschen nach der Katastrophe weiterleben können. Die Tochter des Kommissars, die mit ihrer Freundin im See vor ihrem Haus badet und den Sommer genießt, bildet dabei einen wunderschönen, poetischen Gegenpol, der das Gefühl für die Zerbrechlichkeit von Leben und Glück umso spürbarer werden lässt.
(Lore Kleinert)
Jan Costin Wagner, *1972, lebt als freier Schriftsteller und Musiker in der Nähe von Frankfurt und in Finnland, seiner zweiten Heimat, seine Romane wurden in 14 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet
Jan Costin Wagner "Sakari lernt, durch Wände zu gehen"
Ein Kimmo-Joentaa-Roman
Galiani Berlin 2017, 243 Seiten, 20 Euro
eBook 16,99 Euro, 5 Audio-CDs 19,95 Euro