Veit Heinichen
Scherbengericht
Commissario Laurenti vergeht der Appetit
"Die Menschen vergessen ihre eigene Vergangenheit, sobald es ihnen gut geht." Für viele, denen Triest Zuflucht vor Armut und Krieg bot, mag das zutreffen, nicht jedoch für Aristèides Albanese, der nach siebzehn Jahren im Gefängnis in seine Heimatstadt zurückkehrt.
Einfallsreicher Rächer
Entschlossen, es den 12 gekauften Zeugen, die ihn damals um seine Freiheit und sein Restaurant brachten, heimzuzahlen, bereitet er jedem einzelnen von ihnen eine heimliche Mahlzeit, mal tödlich, mal nur mit sehr unangenehmen Folgen. Commissario Proteo Laurenti fühlt sich mitschuldig am Schicksal dieses begnadeten Kochs, denn damals hätte er aufdecken können, dass der Mord, den man ihm anhängte, Notwehr war, und er setzt sich auf seine Spur. Doch eine in der Stadt grassierende Darmgrippe lässt zunächst keinen Verdacht aufkommen, und Aristèides ist ein ebenso umsichtiger wie einfallsreicher Rächer, der zudem dabei ist, wieder ein kleines Restaurant zu eröffnen.
Gegen den Fortschritt
Und die Menschen, die seiner Kochkunst teilhaftig werden, gehören samt und sonders zur unsympathischen und korrupten Schicht neureicher Blockierer jeglichen Fortschritts in der Stadt. Veit Heinichen, der Triest bestens kennt und sich in seinen Kriminalromanen gern mit ihren kriminellen Abseiten angelegt hat, schildert zur Eröffnung der Opernsaison ihren Geruch, indem er James Joyce, der ebenfalls elf Jahre lang dort lebte, zitiert:
"…saurer Dunst aus Achselhöhlen, geschrumpelte Pomeranzen, schmelzende Brustöle, Mastixwasser, der Atem von Abendmahlzeiten mit schwefligem Knoblauch, faule phosphoreszierende Fürze, Opoponax, der franke Schweiß der heiratsfähigen und verheirateten Weiblichkeit, der seifige Gestank der Männer…"
Bösartige Intrigen
In seinem zehnten Triest-Roman "Scherbengericht" muss der Commissario mit seinem kleinen Team den alten Fall mit dem Mord an einer Reederin verbinden, die kurz vor Beginn ihrer großen Hafeninvestition umgebracht wird. Ein ominöses Geflecht von Einflussnahmen hatte jahrzehntelang erfolgreich jedes Wachstum zugunsten der Konkurrenten verhindert, und die neuen Strukturen in der Stadt sind nicht unbedingt gefestigt genug, um eine Rückkehr der alten Mächte zu verhindern.
Heinichen gelingt es, politische Machenschaften im Hintergrund stimmig und subtil mit den sich kreuzenden Wegen des Kochs Aristèides und des Commissarios Laurenti zu verbinden; kulinarische Finessen und bösartige Intrigen mixt er ebenso gekonnt zusammen wie seine kundigen Einblicke in Wohnsilos, Flüchtlingsquartiere oder Luxusappartements.
Mit seinem bewährten, genussfreudigen Kommissar nähert er sich dem städtischen Alltag gern zu Fuß an:
"Manchmal waren schon Kleinigkeiten entscheidend: Welche alt eingesessenen Geschäfte schlossen für immer und welche eröffneten neu, wer sprach mit wem, wer war neuerdings verfeindet? Beizeiten erfuhr er im Small Talk mit einem bekannten Gesicht auch Dinge, die ihm zu fragen nie eingefallen wären."
Mit leisem Humor
Beiläufig erfährt man einiges über die Hindernisse, die einem zusammenwachsenden Europa im Wege stehen, wie schon in den anderen Bänden um Triest, doch diesmal hat Heinichen mit der Figur des friedlich und gut kochenden Rächers seinem "Scherbengericht" eine besonders skurrile Zutat hinzugefügt, die die neuen und alten Fälle mit leisem und absurdem Humor auflädt, und als Leserin läuft einem das Wasser im Munde zusammen.
(Lore Kleinert)
Veit Heinichen, *1957 in Villingen-Schwennigen, deutscher Krimiautor, lebt seit 20 Jahren in Triest
Veit Heinichen "Scherbengericht"
Commissario Laurenti vergeht der Appetit
Piper Verlag 2017, 336 Seiten, 20 Euro
eBook 14,99 Euro