Matthias Wittekindt
Vor Gericht
Ein alter Fall von Kriminaldirektor a.D. Manz
„Die Genauigkeit, mit der dieses und jenes zurückkehrt, die ist…Ja, was denn? Erschreckend? Erstaunlich? Betörend? Schwer zu sagen, wie bei jedem Gemisch.“
Beschauliches Leben
Kriminaldirektor Manz, seit Jahren pensioniert, hat sich in seinen Cordhosen und karierten Flanellhemden häuslich eingerichtet. Ein alter Fall mischt sein beschauliches Leben mit Frau Christine und etlichen Ruderclubfreunden an der Elbe bei Dresden auf: eine DNA-Spur verweist auf einen Mann, den er vor fast 30 Jahren in Berlin als Mörder ausgeschlossen hatte, einen jungen Kellner aus Ungarn, dessen damalige Frau ihm ein Alibi gegeben hatte.
„Ich habe den Fall damals abgegeben, und das Gericht will nun wissen, was die ersten Ermittlungen ergeben haben. Eins ist komisch. Ich meinte damals ganz sicher, wir hätten den Töter ermittelt. Oder wären wenigstens auf dem richtigen Weg.‘ ‚Was für einen Töter?‘ ‚Täter. Du hörst mir gar nicht richtig zu.‘ ‚Du hast Töter gesagt.‘ ‚Jetzt lass das doch mal mit dem Kleinkram. Jedenfalls steht jetzt jemand ganz anderer vor Gericht. Ich hoffe nur, es wurde seinerzeit niemand verurteilt.‘“
Matthias Wittekind stattet den Weg zurück, der Manz als Zeuge am Kriminalgericht Moabit nicht erspart bleibt, mit vielen genauen Beobachtungen aus, und zugleich mit dem Wissen um die Fehlbarkeit der Erinnerung. Der ehemalige Kriminalbeamte versucht, sein Vorgehen damals nachzuvollziehen, den möglichen Fehler zu suchen, denn die DNA, die damals noch nicht entschlüsselt werden konnte, lügt nicht.
Blinde Flecken
Mit Intensität stürzt er sich auf seine Aufzeichnungen – und kommt nicht wirklich weiter. War sein ‚Bauchgefühl‘ falsch? Haben ihn die desolaten Familienverhältnisse der Ermordeten, die ihre Söhne misshandelte und fremde Männer abschleppte, irregeführt? Dass die blinden Flecken im Leben der sehr begüterten, älteren Frau hartnäckig blind bleiben, bestätigt Manz‘ damalige Unsicherheit. Zugleich erschüttert der Prozess in Berlin, wo er schon so lange nicht mehr war, auch die scheinbare Sicherheit seines Lebens als Pensionär. Die Kollegin, mit der er damals an dem Fall arbeitete, ist gestorben, und was sie ihm bedeutete, gehört zu seinen eigenen Selbsttäuschungen, ebenso wie eine gewisse Selbstzufriedenheit darüber, wie er sich eingerichtet hat.
„Habe ich mich wirklich nicht weiter dafür interessiert, warum Vera nicht mehr zum Dienst erschien? Dachte wahrscheinlich, sie hätte eine Grippe, die ging ja damals um. Für ihn waren der Umzug nach Dresden und die Einarbeitung offenbar wichtiger gewesen als alles andere. Aber wenn ich sie damals so schnell abgehakt habe, warum denke ich jetzt ständig an sie?“
Kunstvoll komponiert
Durch die feinen Risse im Gewohnten dringt Neues ein, kleine Irritationen, und das ist mitunter unbequem und rückt Manz zu Leibe. Subtil, sprachlich elegant und mit hintergründigem Humor entwickelt der Autor eine Szenerie, die hinter dem Gerichtsprozess ein Psychogramm beschädigter Leben entfaltet. Ein kunstvoll komponierter Weg zurück – wie ein Kriminalist mit alten Irrtümern konfrontiert wird und sich seine Integrität zurückerobern muss, entwickelt eine ganz eigene, besondere Spannung, die Matthias Wittekindts Schreiben auszeichnet.
(Lore Kleinert)
Matthias Wittekindt, *1958 in Bonn, Studium Architektur und Religionsphilosophie, Theater- und Hörspielautor, Verfasser von Dokumentationen fürs Fernsehen, seit 2011 Autor zahlreicher Kriminalromane, lebt in Berlin.
Matthias Wittekindt „Vor Gericht“
Ein alter Fall von Kriminaldirektor a.D. Manz
Kampa Verlag 2021, 320 Seiten, 19 Euro
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