Castle Freeman
Herren der Lage
„Ich hatte zwei junge Ausreißer, und ich hatte ein geheimnisvolles Lager im Wald, und ich wollte, dass Homer mir half, beides zusammenzubringen. Ich war mir ziemlich sicher, dass er das konnte. Es ging darum, Verbindungen herzustellen, und in diesem Tal ist alles miteinander verbunden.“
Ländliches Amerika
Sheriff Lucian Wing kennt seinen Bezirk, ein Tal im nördlichen Vermont mit einigen kleinen Orten, sehr genau, und auf seine Deputys, Homer Patch und den wortkargen Treat, kann er sich im Großen und Ganzen verlassen. Auch in seinem neuen Roman baut Castle Freeman die Spannung im gemächlichen Tempo des ländlichen Amerika auf, um sie dann durch jähe Einbrüche von Gewalt voranzutreiben. Zunächst soll Wing die beiden Jugendlichen ausfindig machen, denn ein sehr reicher Mann will seiner Stieftochter Pamela habhaft werden, die mit einem Freund aus dem Internat in dessen Heimatdorf in Wings Bezirk geflüchtet ist. Die Männer, die sie suchen und zunächst auf Wings Unterstützung bauen, schrecken auch vor Mord nicht zurück. Doch der „Hinterwäldler mit dem Sheriffstern“ ist durch Nadelstreifenanzüge und Kommandoton kaum zu beeindrucken:
„In der Stadt sind sie große Nummern, da haben sie alles Mögliche zu bestimmen, und sie denken, das heißt, dass sie hier oben auch was zu bestimmen haben. Warum auch nicht? Ihre Macht beruht auf Geld, oder? Und das Geld ist an beiden Orten dasselbe: amerikanische Dollar.“
Abgelegene Orte
Doch der New Yorker Anwalt mit den ruppigen Manieren missfällt Lucian Wing, und er entzieht sich auf seine bedächtige Weise dem Ansinnen, Pamela und den jungen Mann, der sie beschützen will, auszuliefern, indem er sie in einem abgelegenen Haus nach dem anderen versteckt. Warum die Verfolger diese Orte immer wieder rasch ausfindig machen, lässt sich erst spät aufklären, und Lucian Wing, ein widerspenstiger und nachdenklicher Mann sinniert währenddessen immer wieder über die Eigenarten des Landlebens nach, zum Vergnügen derer, die dem Autor in diese entlegene Gegend der USA folgen.
„…meist haben wir es nicht mit finsteren, geplanten, eindeutigen Verbrechen zu tun, sondern mit dem, was Wingate immer als ‚Dämlichkeit‘ bezeichnete, mit jener Form von Fehlverhalten, die, wenn man der Sache auf den Grund geht, in neun von zehn Fällen auf das Wirken zweier Wohltäter der Menschheit zurückzuführen ist: auf Mr Jim Beam und Mr Bud Weiser.“
Weitere Probleme, denen er in lakonischem Ton und gebotener Sorgfalt Aufmerksamkeit schenken muss, sind die Wünsche seiner Frau Clemmie, die wachsende Orientierungslosigkeit seines Vorgängers und Mentors Wingate sowie ein riesiger Keiler namens Big John, dessen Ausbrüche die Menschen in Schrecken versetzen – viel auf einmal, doch Castle Freemans hintergründiger Humor und seine punktgenauen Dialoge machen auch diesen Roman zu einem gelungenen Lesevergnügen, das die Filme der Coen-Brüder in Erinnerung ruft. Ein Mann mit beträchtlichem Einfühlungsvermögen, der die Gewalt wenig schätzt, ist im Country Noir ein Solitär. Schade nur, dass bestimmte Erzählstränge aus den zuvor veröffentlichten Krimis nicht wieder aufgenommen werden, was den Reiz für die Leser und Leserinnen, die die Bücher des Autors mit Interesse verfolgen, ein wenig schmälert – aber nur ein wenig!
(Lore Kleinert)
Castle Freeman, *1944 in Texas, USA, Redakteur, Lektor und Autor von Kurzgeschichten und Romanen
Castle Freeman „Herren der Lage“
aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Roman, Carl Hanser Verlag 2021, 192 Seiten, 20 Euro
eBook 15,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Castle Freeman
"Auf die sanfte Tour"