Davide Longo
Schlichte Wut
„Es gibt Dinge, die wir nicht sehen und nicht berühren können, aber aufgrund ihrer Auswirkungen können wir auf ihre Existenz schließen.“ Und das muss ein Ermittler dann, wenn er Zweifel an einem Fall hat, der schon auf den ersten Seiten gelöst zu sein scheint.
Ein Antiheld
So geht es Davide Longos Commissario Vincenzo Arcadipane, der in Turin lebt, aber aus dem Süden stammend nicht so ganz heimisch geworden ist. Ein Mann von 55 Jahren, geschieden, seinen Kindern fremd und seiner Ehefrau lästig geworden, Prototyp des Antihelden, der fürchtet, dass er seine kriminalistische Intuition verloren hat und unentwegt nach Sucai, süßen Lakritzbonbons greift. Der Fall eines Jugendlichen, der offenbar eine kolumbianische Pflegekraft in der U-Bahn grundlos angegriffen hat, erweckt seinen Instinkt wieder zum Leben, denn seine Zweifel an der bewiesen scheinenden Schuld des vorbestraften Jungen lassen ihm keine Ruhe. Er zieht den ehemaligen Kollegen und Sonderling Normandia hinzu, der ihn auf die Spur einer ganzen Reihe längst aufgeklärter Verbrechen setzt, „weil das, was offensichtlich ist, nicht immer wahr ist, und was wahr ist, nicht immer offensichtlich.“
Kraft und Augenmaß
Die Zone der offensichtlichen Beweise und der kriminalistischen Routine muss er dafür allerdings verlassen und seinen Zweifeln folgen. Dabei zieht er zwei weitere ehemalige KollegInnen zu Rate, Isa, die zur Verkehrspolizei versetzt wurde, und seinen früheren Mentor, den schwerkranken Corso Bramard, die man beide bereits aus Longos beiden letzten Turin-Krimis kennt. Wie er die Zusammenarbeit der beiden beschreibt, gewährt einen guten Einblick in Davide Longos Beobachtungsgabe und seinen eleganten Stil.
„Seit jeher hat er den Eindruck, wenn sie zusammen sind, dass die beiden über die Treppe eines dreistöckigen Hauses mit engen Treppenabsätzen ein Klavier hinaufwuchten: Etwas Kostbares, aber sehr Sperriges, dessen Handhabung Kraft und Augenmaß verlangt; die Notwendigkeit, die Bewegungen millimetergenau abzustimmen, ohne genau zu wissen, was der andere macht. Und ein gewisses Talent, die Maße einzuschätzen…bei so komplizierten Leuten wie diesen beiden sind die Maßstäbe, die für andere gelten, einfach lächerlich.“
Böses Spiel
Zusammen finden sie, begleitet vom dreibeinigen Hund des Commissario, eine neue, unerwartete Spur. Die Spannung, einem bösen Spiel, bei dem das Internet mit seinen Abgründen und Verlockungen eine wichtige Rolle einnimmt, näher zu kommen, baut der Autor Schritt für Schritt auf, indem er Abschweifungen kunstvoll und wie unabsichtlich Raum gibt. Im Zentrum steht dabei jedoch immer Arcadipane, dessen mit Permafrost verglichener Seelenzustand mithilfe einer außergewöhnlichen Therapeutin zunächst eingekreist und dann, Schritt für Schritt, aufgeweicht und durchgeschüttelt wird, ganz und gar unrealistisch und doch zugleich wunderbar plausibel.
„Ihr Problem hat nichts mit Ihrer Frau zu tun, den Kindern oder der Arbeit. Und auch nicht mit Ihrem Werkzeug zur Weitergabe der Gene, ob es funktioniert oder nicht.“
Indem er sich dem Kern beider Probleme annähert, mit etlichen absurden Prüfungen, die ihm auferlegt werden, kommt er der Lösung des vertrackten Falles, der die fälschliche Verurteilung vieler unschuldiger Menschen beinhaltet, allmählich näher. Für die Leser und Leserinnen durchaus ein fesselndes Vergnügen, das zudem Einblick in viele Lebenslagen in der Stadt Turin und ihrem Umfeld bietet.
(Lore Kleinert)
Davide Longo *1971 in Carmagnola bei Turin, italienischer Autor von Prosa, Hörspielen und Drehbüchern, lebt in Turin
Davide Longo „Schlichte Wut“
aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner
Piemont-Krimi, Rowohlt Buchverlag 2022, 352 Seiten, 23 Euro
eBook 19,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Davide Longo
Der Fall Bramard