Gerald Seymour
Vagabond
Erstaunlich, dass alle Versuche, Gerald Seymours Thriller bei uns bekannt zu machen, bisher wenig gefruchtet haben! Umso mehr ist Thomas Wörtche als Herausgeber von "Vagabond" zu loben, der nun einen neuen Versuch wagt.
Neue Generation von Terroristen
Mit diesem hochkomplexen Thriller, seinem 30. Roman, kehrt Seymour zum nordirischen Kriegsschauplatz zurück, den er mit "Harry’s Game" 1975 so erfolgreich durchleuchtete, dass er sein Handwerk als Reporter und Korrespondent für das des Autors verließ. Zwanzig Jahre nach dem Waffenstillstand der IRA versuchen versprengte Terroristengruppen das Feuer wieder anzufachen, indem sie schwere Waffen aus den Beständen der russischen Armee kaufen. Seymours große Stärke ist in all seinen Romanen, sich der Geschichte, der Motivation und den Gefühlen der Akteure bis an die Schmerzgrenze anzunähern, etwa wenn er Brennie Murphy, einen Mann voller Hass vorstellt, der halbwüchsige Jungen zu Bombenlegern erzieht und auf eine neue Terroristengeneration setzt:
"Er sagte den Kids immer, dass es nichts Ungewöhnliches war, wenn ein Mann seines Alters solchen Hass in sich trug. Mehr als alles andere in seinem Leben fürchtete er sich davor, die Erinnerung an die vielen Toten, die alten Kameraden zu verlieren. Er hoffte inständig, er würde sterben, bevor er aus Schwäche einen Kompromiss einging. Die Toten hatten das nicht verdient."
Um jeden Preis
Die Toten und der geheime Krieg sind es, die auch Danny Curnow im Bann halten, einen legendären Agentenführer des MI5, der als Vagabond unter dem Kriegsnamen Desperate seine Informanten manipulierte und wenn nötig, ans Messer liefern musste, um im Kampf gegen den nordirischen Terror um jeden Preis zu siegen. Für ihn war der Preis so hoch, dass er im selbstgewählten Exil an der Küste der Normandie nurmehr ein reduziertes Leben als Fremdenführer über die Schlachtfelder des 2. Weltkriegs aushielt. Nun, nach 16 Jahren, ruft ihn sein alter Chef Bentinick zurück, um den Waffendeal zu vereiteln und vor allem den russischen Händler, der sich in Prag einen goldenen Käfig gebaut hat, mit Hilfe des irischen Schmugglers Ralph Exton zu fassen. Exton
"war ein Lockvogel. Er lebte eine Lüge – oder mehrere. Das war der Grund, warum er noch atmete…vielleicht fürchtete er sich vor den Geheimdienstleuten am meisten, oder vor dem russischen Freund aus alten Zeiten, aber die Iren standen jetzt gerade auf dem Siegertreppchen. Er spielte die Ängste gegeneinander aus, ließ sie konkurrieren und klammerte sich an eine Reihe von Lügen",
mit einer gewissen Leichtigkeit, die ihm Sympathien einbringt und am Leben hält
Gier nach Geld
In Prag schließlich treffen sie alle aufeinander, die Agenten des MI5, der tschechische Polizist mit dem Zorn auf die Korruption in seinem Land, die nordirischen Fackelträger des Terrors, die Russen mit der Gier nach Geld, das ihnen das verlorene Weltreich ersetzen hilft. Frauen spielen dabei eine ungewöhnlich wichtige Rolle, und der Protagonist Danny, der 'Vagabond' bildet das kühle Zentrum dieses Spiels, in dem es um die Schatten der Vergangenheit ebenso geht wie um den Preis, den die fragile Sicherheit westlichen Wohlstandslebens möglicherweise kostet.
"Wir stehen außerhalb einer jeden Welt, die Regeln und Konventionen hat. Die Leute auf der Straße, die uns mit ihren Steuergeldern finanzieren, freuen sich, wenn sie hören, dass ein Krimineller geschnappt wurde. Sie freuen sich nicht besonders, wenn sie hören, was getan werden musste, um das zu erreichen. Wir erwarten keinen Dank, und wenn wir verletzt werden, dürfen wir auch kein Mitleid erwarten. Wir sind unsichtbar."
Verrat und Gewalt
Seymour entfaltet einen Kosmos von Rücksichtslosigkeit, Nibelungentreue und nachvollziehbarer Loyalität, den er wie kein anderer zu beschreiben vermag: mit all seinen politischen und menschlichen Widersprüchen und mit Mitempfinden sogar mit jenen, denen jeder moralische Kompass fehlt, aus welchen Gründen auch immer. Die vielen Handlungsfäden, die die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbinden, verknüpfen sich zu einer düsteren Erzählung von Verrat und Gewalt. Um Heldentum geht es darin nicht, und jemand wie Danny Curnow ahnt das, wenn er etwa über das Attentat auf den SS-Führer Heydrich 1942 in Prag nachdenkt:
"Echte Helden lebten mit dem Schatten im Nacken, mit der Angst, die sie befiel, wenn ein Wagen viel zu langsam und mit zu grellen Scheinwerfern auf sie zuhielt. Eines Tages würde dieser Schatten an ihre Tür klopfen, während sie ihrem Kind die Windeln wechseln. Diese Leute bekamen keine Medaillen, sie gewannen Kriege."
(Lore Kleinert)
Gerald Seymour, *1941 in Surrey, England, Historiker und Journalist, Autor zahlreicher Polit-Thrillern
Gerald Seymour "Vagabond"
aus dem Englischen von Zoe Beck und Andrea O’Brien
Thriller, herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp Verlag 2017, 498 Seiten, 14,95 Euro
eBook 12,99 Euro