Kate Atkinson
Das vergessene Kind
Großbritannien ist das Mutterland des Krimis. Hier hat sich das Genre immer wieder neu erfunden, und diesem Trend bleibt auch Kate Atkinson treu. Sie hat einen ungewöhnlichen Kriminal-Roman vorgelegt, in dem - buchstäblich - nicht alles Recht ist. Denn wo im traditionellen Krimi am Ende Recht & Ordnung wiederhergestellt sind, traut sich Atkinson, auch mal fünfe ungerade sein zu lassen.
Rentnerin in Mutterrolle
Zunächst ist es die Rentnerin Tracy W., die sich eines Tages so verhält, wie man es von einer Ex-Polizistin nicht erwartet. Sie beobachtet im Kaufhaus eine Mutter-Kind-Szene, die ins Gewalttätige umzukippen droht, und handelt spontan: Sie "kauft" der Frau für ein Bündel Geld das Kind ab. Damit hat Tracy, Mitte 50, übergewichtig, oft grimmig und durchaus schlagkräftig, in ihrem Single-Dasein plötzlich für eine etwas seltsame, pfiffige Vierjährige zu sorgen: Klamotten, Essen, Spielzeug besorgen und Spielplatzbesuche sind angesagt.
Ein alter Mordfall ? und noch ein Kind
Das Kind bringt Erinnerungen an einen alten Fall zurück, den Tracy als junge Polizistin bearbeitet hat. Vor 30 Jahren fanden sie und ihr Kollege eine ermordete Frau, neben ihr ein Kind, das knapp überlebt hatte. Was wurde eigentlich damals aus diesem Kind? Warum hielt sich seinerzeit die zuständige Sozialarbeiterin so bedeckt über diesen Fall?
Hier kommt die zweite Hauptfigur des Romans ins Spiel: Jackson Brodie ist Privatdetektiv und im Auftrag einer Kundin in einer ebenfalls 30 Jahre zurückliegenden Adoptionssache unterwegs. Jackson findet heraus, dass er die Ex-Polizistin Tracy finden muss, um ihr seine Fragen zu stellen. Die aber ist längst mit der 4jährigen Courtney auf der Flucht...
Sarkastisch erzähltes Sozialdrama
Kate Atkinson hat einen hoch komplexen, spannenden Kriminalroman geschrieben, der eng an den Geschichten ganz normaler kleiner Leute entlang geschrieben ist. Da ist z.B. die tüddelige, mit Demenz kämpfende Schauspielerin Tilly, oder der mit seinen diversen Verflossenen hadernde Jackson, oder eine ganze Gruppe von Tracys ehemaligen Kollegen, die eisern über den Mordfall von damals schweigen.
Atkinson verknüpft zahlreiche lose Fäden zu einem immer dichter werdenden Geflecht. Sie zeigt, dass auch bei der Polizei nicht nur gesetzestreue Bürger arbeiten. Dass man manchmal ungesetzliche Wege gehen muss, um Gerechtigkeit zu erreichen. Sie zeigt, wie leicht Kinder zu Opfern werden. Es steckt eine Menge Sarkasmus in diesem Buch, ein herber, bitterer Humor. Das vergessene Kind ist ein Krimi der besonderen Art: ein dichtes, düsteres Sozialdrama aus dem heutigen Nordengland.
(Gabi von Alemann)
Kate Atkinson *1951 in York, engl.- Schriftstellerin, lebt in Edinburgh
Kate Atkinson "Das vergessene Kind"
Droemer 2011, 457 Seiten, 19,99 Euro