Anne Holt
Schattenkind
Der 22. Juli 2011 ist nicht irgendein Tag in Norwegen. An diesem Tag tötete ein rechtsextremer Attentäter 77 Menschen – Kinder und Jugendliche vor allem. Die Kriminalpsychologin Inger Johanne Vik stößt genau an diesem Tag beim Besuch bei einem Ehepaar auf eine Tragödie: ein totes Kind, offenbar von einer hohen Trittleiter gefallen, einen Vater, der sich anklagt, nicht besser aufgepasst zu haben, eine verzweifelte Mutter.
Einzelgänger
Die Polizei ist in Oslos Innenstadt im Einsatz, und als die Zahl der Toten allmählich öffentlich wird, erscheint sie zunächst noch unwirklich, bis das Grauen sich über die ganze Gesellschaft senkt. Auf diesem Hintergrund versucht der junge Polizist Holme, etwas über den Tod des Jungen Sander herauszufinden, der Tabletten gegen Hyperaktivität nehmen musste, offenbar ein schwieriger, einzelgängerischer Achtjähriger. Inger Johanne versucht, mit der Mutter ihrer ehemaligen Mitschülerin Ellen Kontakt aufzunehmen.
Als Ellen Mohr noch Ellen Krogh gewesen war, hatte ihr Körper Kurven gehabt. Mit den Jahren war sie dünn geworden, und am Ende mager. Drei Fehlgeburten hatten ihr fast alle Kraft genommen, bis sie dann mithilfe einer Spezialklinik ein lebendes Kind zur Welt gebracht hatte. ..Ellen trainierte viermal die Woche, das ganze Jahr hindurch, und sah inzwischen aus wie eine Marathonläuferin. Sehnig, stark, klapperdürr.
Widersprüche
Die Kriminalpsychologin sieht sich instinktiv auf der Seite dieser früher so schönen und angenehmen Frau. Doch sie wittert Widersprüche, Ungereimtheiten und spürt dem Verhalten des Ehemannes ebenso nach wie seinem Freund und Kollegen Joachim, der viel mit Sander gespielt hat und ihn offenbar besser kannte als alle anderen. Die Familie des toten Kindes ist offenbar weit weniger harmonisch als es der äußere Schein nahelegt, und das Unbehagen, das den Tod des Jungen begleitet, greift um sich.
Trauer war etwas, das Joachim Boyer noch nie erlebt hatte, und deshalb hatte er einige Tage gebraucht, um seine Empfindungen mit einem Namen zu belegen. Der Schock am Freitagabend, das Unbehagen angesichts des so übel zugerichteten Sander war eine Sache. Das bohrende Gefühl im Zwerchfell, das ab und zu herauswollte und seinen Blick trübte, war noch einmal etwas ganz anderes…Das verwirrte ihn und machte es schwer, klar zu denken.
Tragischer Unfall
Erst als die Großmutter des Jungen, die mit ihrer Tochter Ellen keinen Kontakt mehr hat, der Polizeipsychologin von ihrem Verdacht erzählt, dass der Junge misshandelt worden sei, kommt das Bild, Sander habe ein schönes Leben gehabt und sein Tod sei ein tragischer Unfall, ins Wanken. Doch Sanders Tod kommt zur Unzeit, selbst seine Mutter ist vom Schmerz der Fernsehbilder gebannt und kaum mehr in der Lage, die Bruchstücke ihres falschen Lebens aufzuheben.
Familiäre Abgründe
Anne Holt, selbst als Rechtsanwältin tätig gewesen und kurze Zeit auch als Norwegens Justizministerin, beschreibt sehr präzise, wie sich im Schatten eines großen Verbrechens, einer nationalen Katastrophe der Tod eines einzelnen Kindes zum ungeahnten Verhängnis entwickelt. Polizist Holme erlebt in seinem ersten Fall, dass, wer über Geld und Kontakte verfügt, besser vor der Beobachtung durch die Polizei geschützt ist. Er erfährt aus Sanders Krankenakten, wie oft das Kind mit Verletzungen im Krankenhaus war und wie wenig Fragen zu den Striemen und Blutergüssen gestellt wurden. Und Inger Johanne Vik muß erkennen, wie leicht man sich blenden lassen und die Wahrheit verfehlen kann, wenn man die Abgründe im trauten Kreis der Familie unterschätzt.
(Lore Kleinert)
Anne Holt *1958 in Larvik, norwegische Kriminalautorin und ehemalige Justizministerin Norwegens, lebt in Oslo
Anne Holt "Schattenkind"
Kriminalroman, übersetzt von Gabriele Haefs
Piper Verlag 2013, 336 Seiten, 19.99 Euro, eBook 15,99 Euro
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