Dror Mishani
Vermisst. Avi Avraham ermittelt
Der israelische Autor Dror Mishani ist Lektor, Literaturprofessor und Spezialist für die Geschichte des Kriminalromans. Auf seinen ersten eigenen Krimi darf mal also gespannt sein, zumal er als Auftakt einer Reihe um Inspektor Avi Avraham konzipiert ist. Sein Roman "Vermisst" liegt jetzt auf deutsch vor.
Vorsichtige Spurensuche
Am Anfang erklärt Inspektor Avi Avraham einer besorgten Mutter, in Israel gebe es keine Kriminalromane, weil es weder Serienmörder noch Entführer gibt, und um ihren vermissten Sohn müsse sie sich deshalb keine Sorgen machen. Doch der 16jährige Ofer Sharabi bleibt verschwunden, und der Ermittler, ein zunächst in sich gekehrter und pessimistischer Mann, spürt, wie sehr er sich geirrt hat. Der schwarze Rucksack des Jungen schließlich setzt ihn auf die Spur, weil ihm klar wird, daß Ofer nicht aus eigenem Antrieb fortgelaufen sein kann.
Bedrückende Alltagsroutine
Je mehr die Ermittlung voranschreitet und Avraham sich in das Leben des 16jährigen einfühlt, umso mehr wächst seine Zuversicht, auch aus der Routine seines bedrückenden Alltags zu entfliehen.
"Das Meer gewann zunehmend an Bedeutung in der Geschichte. Nicht das Meer, an das Avraham im Sommer alle paar Wochen fuhr, am Sabbat, ohne dort sein Hemd abzulegen. Nein, ein anderes Meer, ein Meer, das Arbeitsplatz war, und eine Entfernung bedeutete, die zwischen einem Vater und seinem Sohn, einer Frau und ihrem Mann lag."
Mühsame Rekonstruktionen
Mühsam werden die Stunden vor Ofers Verschwinden rekonstruiert – und ein junger Lehrer, Seev, der mit Frau und kleinem Kind im gleichen Haus wie der verschwundene Junge lebt, erweist sich als besonders hilfsbereit Er informiert die Polizei bereitwillig und versetzt sich ebenfalls in Ofer, nimmt an einem Schreibworkshop teil und schreibt im Namen des Jungen Briefe, die er schließlich heimlich an die Eltern schickt.
"Jahrelang habt ihr versucht, mich auszuhungern, habt mir das vorenthalten, was ich benötigt hätte: wolltet mich klein halten, damit mein Leben nicht besser ist als das Eure, damit mein Leben nicht wie ein Zerrspiegel die Armseligkeit Eures eigenen Lebens zeigt."
Willkommene Projektionsfläche
Dror Mishani entwickelt mit großem Gespür für die Unterströmungen der israelischen Gesellschaft, wie der verschwundene Junge für die sehr unterschiedlichen Männer zur Projektionsfläche wird. Sie verbirgt die Wahrheit und verweist doch zugleich auf sie, wenn man sie denn richtig zu lesen versteht. Das literarische Bemühen des Lehrers Seev, der dem Jungen noch dazu Nachhilfeunterricht gab, bringt ihn in Verdacht. Mishani erzählt hier ganz nebenbei die Geschichte eines überforderten Mannes, der - frei nach Kafka - nach einer Möglichkeit suchte, ein Buch zur "Axt für das gefrorene Meer in ihm selbst" werden zu lassen.
Im Zentrum der Ermittlungen
Mit gänzlich ungeeigneten Mitteln und krasser Anmaßung schiebt er sich selbst ins Zentrum der Ermittlungen. Und der anfangs so unbeholfene und von Selbstzweifeln geplagte Polizeiinspektor Avraham erweist sich ganz allmählich als ebenso zäher wie vielschichtiger Mann, der zudem ein ungewöhnliches Hobby hat: "Ich lese, wenn ich Zeit habe, Kriminalromane; sehe mir Detektivfilme und Polizeifernsehserien an und beweise, dass sich der Ermittler irrt.“ Sie verstand nicht, was er meinte. Niemand verstand das.
"Wem beweist Du das?
Mir selbst. Ich lese einen Kriminalroman, und dabei stelle ich meine eigene Ermittlung an und beweise, dass der Kommissar in dem Buch sich irrt oder den Leser bewusst in die Irre führt."
Beides führt Dror Mishani in diesem ersten Roman seiner Reihe um Inspektor Avraham meisterhaft und spannend vor - den Irrtum ebenso wie die Irreführung. Ob sein Ermittler im zehnten Buch dann genauso brillant sein wird wie Sherlock Holmes, ist eine Hoffnung, die die Leser mit ihm teilen.
(Lore Kleinert)
Dror Mishani "Vermisst. Avi Avraham ermittelt"
übersetzt aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Paul Zsolnay Verlag 2013, 352 Seiten, 17.90 Euro
eBook 13,99 Euro, Audiobook 19,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Dror Mishani "Avi Avraham ermittelt"
"Die schwere Hand"
"Die Möglichkeit eines Verbrechens"