Dror Mishani
Die schwere Hand
Avi Avraham ermittelt
Zwei Dinge haben sich im Leben von Oberinspektor Avi Avraham geändert: Er ist zum Leiter des Ermittlungszentrums von Cholon-Ayalon, dem grauen Vorort von Tel Aviv, ernannt worden, und er ist nicht mehr allein.
Warten auf Regen
Marianka aus Brüssel hat sich entschlossen, einige Zeit mit ihm zusammenzuleben, und das einzige, was sie schlecht erträgt, ist das häufig schöne Wetter: "Stundenlang stand er in seinem Büro und wartete für sie auf Regen". Doch seine erste eigenständige Mordermittlung gewährt dem Paar wenig Zeit; eine Frau wurde ermordet, die Avraham kennt, weil sie vor Jahren Opfer einer Vergewaltigung geworden war, und er hofft auf aufschlussreiche Spuren:
"Landete man so nicht immer beim Mörder? Durch eine systematische Entschlüsselung der am Tatort hinterlassenen Spuren, genau wie bei einem Einbruch oder einem Überfall mit Körperverletzung?...Die Frage, die ihn auf dem Weg zum Tatort im Wagen begleitet hatte, ließ ihm keine Ruhe, aber diese Frage schrieb er nicht auf: Weißt Du überhaupt, wie du ihren Tod ermitteln sollst?"
Gescheiterte Existenz
Er weiß es nicht genau, und all seine Unsicherheiten holen den grüblerischen Mann ein und trüben auch das neue Glück mit Marianka ein, denn er verfällt rasch wieder in alte Gewohnheiten des Alleinlebens. Doch die Spur, die er gegen etlichen Widerstand aus der Polizei selbst nicht aus den Augen verliert, soll sich am Ende als roter Faden durch den komplizierten Fall erweisen: Ein vermeintlicher Polizist wurde im Hausflur der Ermordeten gesehen, und auch andere Vergewaltigungsopfer hatten Besuch von diesem Mann. Dror Mishani entwickelt den Fall in seinem dritten Kriminalroman nicht nur aus der Perspektive seines Protagonisten, sondern blendet parallel immer wieder in die Familie der Bankangestellten Mali Bengtson, deren Mann Coby auf der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle ist - eine eigentlich gescheiterte Existenz, denn alles, was er als Einwanderer aus Australien in Israel erreichen wollte, ist ihm nicht gelungen. Mali hält zu ihm, wird aber ganz allmählich misstrauisch und fühlt sich allein gelassen.
"Sie wusste, er würde sie nicht anrufen, denn es war immer sie, die ihn versöhnlich stimmen musste, weil Coby einfach nicht wusste, wie man einen Streit beendete. Das war auch sein Problem bei der Arbeit. Kleinere Spannungen, die andere Leute zu entschärfen oder einfach zu ignorieren wussten, machte Coby zu bitteren Fehden. Und wenn er meinte, jemand habe ihm unrecht getan, war er nicht in der Lage zu verzeihen."
Feinfühlige Helden
Mishani bewegt die beiden Welten, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, behutsam auf den Moment zu, wo sich die Schicksale kreuzen werden. Wieder ist es eine Vergewaltigung, nämlich die Malis, der jungen Mutter und enttäuschten Ehefrau vor einigen Jahren während ihrer Dienstreise auf Eilat, die zum Kristallisationspunkt wird. Der Täter wurde nie gefasst, ihr Mann Coby kümmerte sich aufopfernd um sie, und wo die Verbindung zum aktuellen Mordfall liegt, ist zunächst nicht zu erkennen. Avi Avraham muss sich von seiner früheren Chefin sagen lassen, er habe sich in die einzige ihm genehme Geschichte verrannt:
"Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was dich leitet, wonach du genau suchst, aber die Wahrheit ist, ich war immer schon der Ansicht, dass es das ist, was dich daran hindert, der exzellente Ermittler zu sein, der du sein könntest. Doch vielleicht ist es noch nicht zu spät, dich zu ändern."
Doch wenn er sich ändern würde, würde er seinen Instinkt verraten, und der ist letztlich das einzige, was ihn in diesem hochkomplexen Fall zum Täter führen kann.
Dror Mishanis dritter Fall mit Avraham lebt weniger vom Thrill der Ermittlung als von der Erkundung, was Gewalt anrichtet und wie sie sich auf jemanden auswirkt, der ohnehin instabil und neurotisch ist. Man könnte Mishanis von Zweifeln geplagten Ermittler mit Friedrich Anis feinfühligen Helden vergleichen, etwa wenn seine Freundin ihm vorwirft, er übernehme Verantwortung für Dinge, die er nicht getan hat. Aber Avi Avraham hat in diesem dritten Roman bereits so an Gewicht und Originalität gewonnen, dass er keines Vergleichs mehr bedarf.
(Lore Kleinert)
Dror Mishani *1975 in Cholon, Israel, Literaturdozent und Übersetzer, lebt in Tel Aviv
Dror Mishani "Die schwere Hand"
Avi Avraham ermittelt
Roman, aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke
Paul Zsolnay Verlag 2018, 288 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Dror Mishani "Avi Avraham ermittelt":
"Die Möglichkeit eines Verbrechens"
"Vermisst"