Claudia Piñeiro
Kathedralen
„Seit dreißig Jahren glaube ich nicht mehr an Gott“ – mit diesem Satz beginnt, Lía, die mittlere der drei Sardá-Schwestern, ihre Erzählung dessen, was damals geschah.
Schlachtfeld Familie
Ihre jüngste Schwester Ana war ermordet worden, ihr zerstückelter Körper halb verbrannt, und auf ihrer Beerdigung sagte Lía sich vom allumfassenden Katholizismus ihrer Familie los und verließ bald darauf Buenos Aires, weil sich offenbar niemand um Aufklärung des Verbrechens bemühte. Im spanischen Santiago de Compostela leitet sie inzwischen eine Buchhandlung, und außer einem Briefwechsel mit ihrem Vater hat sie jeglichen Kontakt mit der Familie abgebrochen. Doch als sich ihr Neffe Mateo einfindet und sie vom Tod ihres Vaters erfährt, setzt sich die Geschichte Schicht um Schicht fort.
„Wir sind wie eine große Narbe. Meine Familie, das ist eine einzige riesengroße Narbe, die ein Mord hinterlassen hat.“
So empfindet es der junge, unsichere Mateo, der sich von seinen Eltern loslösen will und seinem Großvater als einzigem Vertrauten hilft, das Rätsel um Anas Tod aufzuklären. Seine Erzählung knüpft an Lías‘ an, und am Ende schließt sich ein Kreis, wenn beide den Brief des verstorbenen Vaters und Großvaters lesen. Die Perspektiven weiterer Familienmitglieder, der ältesten Schwester Carmen, ihres Mannes Julián, eines ehemaligen Priesterschülers, tragen zur Ausformung des familiären Geflechts bei, und es erweist sich, vor allem was die drei Schwestern anging, als Schlachtfeld, zumindest aus der Sicht der Ältesten:
„Unter Geschwistern lernt man, all die Schwierigkeiten und Konflikte auszutragen, mit denen man es später im Leben, als Erwachsene, zu tun bekommt. Mit Lía und Ana übte ich also, wie man Dinge aushandelt, seine Meinung vertritt, sich durchsetzt, gewinnt oder verliert. Wie auf dem Schlachtfeld.“
Verdrängte Schuld
Was mit Ana wirklich geschah, wird ganz allmählich der Erinnerung und dem katholischen Lügengespinst entrissen, und mit der Figur von Anas Freundin Marcela Funes ist der Autorin ein eleganter Kunstgriff gelungen. Als Ana in einer Kirche in ihren Armen starb, büßte sie ihr Kurzzeitgedächtnis ein, denn eine Madonnenfigur stürzte ihr auf den Kopf. Aus den Beobachtungen, die ihr geblieben sind, kann wiederum ein Kriminalist die Ursache ihres Todes entschlüsseln. Dieser war damals Berufsanfänger, und niemand glaubte seinen Zweifeln an der Todesursache, die rasch als Vergewaltigung und Mord durch Unbekannte eingestuft wurde. Inzwischen weiß er, dass sein Beruf ihn „immer wachsam und offen für unerwünschte Wahrheiten“ macht, und als Außenseiter kann er, ebenso wie Marcela, die Tatsachen rascher entschlüsseln als die Familienmitglieder. Das klingt ein wenig nach Hercule Poirot, ist es aber keineswegs, denn was geschah, ist rasch erkennbar. Wichtiger ist Claudia Piñeiro, was verdrängt, unterdrückt, unsichtbar gemacht wurde, und erst in den sieben Erzählungen schält sich allmählich heraus, wer schuldig wurde, und warum. Das erdrückende katholische Umfeld mit seinen vielen Verboten und Rollenzwängen spielt dabei eine zentrale Rolle. So vermutete Lía, Ana sei damals, als Fünfzehnjährige, in den Seminaristen Julián verliebt gewesen:
„In gewisser Weise waren wir das damals alle – es war wie eine Fantasie, die man sich nicht einzugestehen wagt, die Entdeckung der erotischen Anziehungskraft des Verbotenen oder einfach nur Verblüffung über einen Mann, der zu einer Zeit, zu der die Geschlechterrollen noch klar verteilt waren, darauf verzichtete, seine Virilität unter Beweis zu stellen.“
Missbrauch und Grausamkeit
Carmen, die ihn später heiratete, stellt den Glauben an Gott in die Mitte ihres Lebens, weil sie nicht weiß, was ihr sonst noch bliebe. Nicht einmal der Vater der drei Sardá-Töchter, der zumindest einen großen Teil dessen, was geschah, aufdecken kann, kann sich der ganzen, schrecklichen Wahrheit stellen.
„Ich glaube, wir dringen normalerweise nur so weit zur Wahrheit vor, wie wir es ertragen können: Keinen Schritt weiter, dazu fehlt uns der Mut. Unser Überlebenstrieb bewahrt uns davor, diese Grenze zu überschreiten.“
Nur uns als Leserinnen und Leser ist es vorbehalten, in den je einzelnen Erzählungen die ganze, faszinierende Geschichte zu entdecken, von Missbrauch und Grausamkeit, Kathedralen und Lügengebäuden.
(Lore Kleinert)
Claudia Piñeiro, *1960 in Buenos Aires, eine der erfolgreichsten Autorinnen Argentiniens mit Theaterstücken, Kinder- und Jugendbüchern, sie führte auch Regie fürs Fernsehen .
Claudia Piñeiro „Kathedralen“
aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Roman, Unionsverlag Zürich 2023, 320 Seiten, 24 Euro
eBook 18,99 Euro