Mathijs Deen
Der Holländer
„Ich weiß alles über Schweigen“. Redefreudig ist er nicht, der ‚Holländer‘, und ein Holländer ist der deutsche Kriminalbeamte Liewe Cupido auch nicht, aber sein früh verstorbener Vater war Fischer auf Texel, und seine schweigsame deutsche Mutter Meeresbiologin.
Im Sog des Priels
Deshalb er ist genau der Richtige, um zunächst inoffiziell herauszufinden, wie und warum einer der beiden erfahrenen Extremwattwanderer im Grenzgebiet vor Borkum auf einer Sandbank tot aufgefunden wird. Zu dritt erwanderten die Männer sämtliche Nordseeinseln vom Festland aus, bis auf diese letzte, den ‚Mount Everest‘ aller Wattwanderer, doch diesmal ist Aron nicht dabei, sondern macht mit seiner Frau Urlaub an der englischen Küste. Peter Lattewitz, der Überlebende, ist desorientiert und verstört, weil er seinen Freund Klaus nicht aus dem Sog eines Priels retten konnte und außerdem glaubt, seine vor Jahren tödlich verunglückte Frau Helen gesehen zu haben.
„Man sieht keine Farben mehr, nur dunklere und hellere Töne; was man für Wasser hält, ist Schlick, was man für Sand hält, ist Wasser…Alles scheint normal zu sein, ist es aber gar nicht. Wasser scheint Land zu sein, Land Wasser, jemand, der eigentlich schreit, scheint zu flüstern, jemand scheint an einem Seil zu zerren, der das in Wirklichkeit nicht tut…“
Alles unter Kontrolle
Mathijs Deen fasst die überwältigende Schönheit des Wattenmeers, seine Geheimnisse und Gefahren in poetische Sprachbilder, die er mit profundem Wissen über dieses besondere Naturwunder anreichert, rund um Priele, gefährliche Strömungen, Sandbänke und tückische Untiefen, eine Wildnis besonderer Art, „in der alles anders ist als auf dieser Seite, auf dem Land, wo wir alles unter Kontrolle zu haben glauben. Im Watt ist die Natur die Herrscherin“. Die drei Extremwattwanderer waren, wie sich andeutet, doch weniger brüderlich, als Peter Lattewitz es beschwört, und er wird durch den Tod seines Freundes vollkommen aus der Bahn geworfen:
„Man weiß eben doch nicht alles, im Kopf hatte ich diese Wattdurchquerung schon so oft gemacht, und in all den Jahren hat das Watt geschwiegen, in all den Jahren war es mein Freund, und dann, wenn es endlich soweit ist, merkt man, dass es gar kein Freund ist, dann lässt es einen im Stich, dann schlägt es zurück.“
Der ‚Holländer‘ Liewe Cupido versucht, dem komplexen Freundschaftsgefüge dieser Männer und ihrer Frauen näherzukommen, mit Hilfe eines jungen Bundespolizisten aus Württemberg, der sich in seiner ersten Station an der holländischen Grenze vor allem langweilt: „Das Land, die Sprache, der Humor, alles ist platt in Bunde.“ Zugleich lernt man viele treffend gezeichnete Akteur*innen kennen: die niederländische Polizistin Opperwachtmeester Geeske Dobbenga, unterwegs mit ihrem Team auf ihrer vermeintlich letzten Patrouillenfahrt vor der Pensionierung, die den Toten fand, und etliche ihrer originellen Kolleginnen und Widersacher.
Wenn Sandbänke wandern
Als besonderes Element verleiht der Streit zwischen den deutschen und niederländischen Behörden dem Fall unerwartete Spannung: Wer weiß schon, dass seit dem Vertrag von 1824 die Grenze nicht genau zu bestimmen ist, weil Sandbänke wandern, und wer hätte gedacht, dass die Rechthaber auf beiden Seiten in Zeiten langjähriger EU-Zusammenarbeit eifersüchtig auf festgelegten Grenzziehungen und Kompetenzen bestehen. Und sich durchaus nicht immer mögen, wie der Leiter der deutschen Bundespolizei See gegenüber seinem niederländischen Kollegen sehr deutlich macht:
„Haben Sie überhaupt je ein Schiff von innen gesehen, Henk?“ „Ich stamme aus einer Familie von Fischern, hier am Dollart. Wir haben noch Euren Fischern eins aufs Maul gehauen, weil sie unsere Reusen nicht in Ruhe lassen konnten. Wir haben sie samt ihren Kreiern an Land geschleift.“ „Kreiern?“ „Wattschlitten“. “Aha, Schlittenfahren im Schlick, daher kommen Sie also. Einmal Schlickbeißer, immer Schlickbeißer, van de Wal.“
Deen bündelt all diese unterschiedlichen Perspektiven zu einem schlüssigen und tiefgründigen Kriminalfall mit dem Wattenmeer als dramatischer Hauptdarsteller*in. Und auf der Innenseite des Covers dieses schön gestalteten Bandes findet sich die passende Karte zum Gebiet, in dem der ‚Holländer‘ hoffentlich weiter ermitteln wird.
(Lore Kleinert)
Mathijs Deen, *1962, niederländischer Journalist und Autor von Romane, Kolumnen und Kurzgeschichten.
Mathijs Deen „Der Holländer“
aus dem Niederländischen übersetzt von Andreas Ecke
Roman, mare-Verlag 2022, 272 Seiten, 20 Euro
Weiterer Buchtipp zu Mathijs Deen
"Der Retter", Kriminalroman