Mathijs Deen
Der Retter
„Zu viel Wind im Kopf“ hätten Menschen, die aus der Spur geraten sind, für Andere nicht mehr verständlich, aber sonst harmlos - so heißt es jedenfalls auf den Nordseeinseln. Ansonsten ist man eher schweigsam, das gilt für die niederländischen Inseln ebenso wie für die deutschen am Rande des Wattenmeers.
Wie Miesmuscheln
Auch die Seenotretter von Ameland und Norderney sind nicht sehr auskunftsbereit: vor 21 Jahren sank der Schlepper „Pollux“, und gemeinsam retteten sie alle Besatzungsmitglieder in einer komplizierten, gemeinsamen Anstrengung – bis auf Kapitän Peiser. Kommissar Liewe Cupido übernimmt den Fall widerstrebend, als in Northumberland eine Leiche in der Schwimmweste der „Pollux“ angeschwemmt wird. Warum konnte Peiser nicht gerettet werden? Das Meer gibt seine Geheimnisse mitunter spät preis, und Cupido ist außerdem mit dem Tod des eigenen Vaters auf See beschäftigt, der ebenfalls nie wirklich geklärt wurde. Er besucht seine Mutter Anna auf Texel, der Insel, wo er geboren wurde und sich entschloss, kein Fischer wie sein Vater zu werden. „Diese verdammten Insulaner!“, stößt sie plötzlich hervor. „Sagen keinen Ton, kleben zusammen wie die Miesmuscheln, die nichts tun als fressen und scheißen!“
Auf der Flucht
Wie die Schweigemauern der Insulaner beider Länder mit Geduld und Hartnäckigkeit durchstoßen werden, erzählt Mathijs Deen in seinem dritten Roman mit großem Einfühlungsvermögen für die besonderen Lebensbedingungen an der Küste und vor allem für die verschworenen Gemeinschaften, der Fischer, der Seenotretter, Männer, die ihr Leben immer wieder für andere aufs Spiel setzen. Und nicht darüber sprechen, vor allem nicht über ihre Niederlagen. Auch Denkmäler schätzen sie gar nicht, so wie das auf Norderney, das Cupidos neuer, junger Kollege Xander Rimbach zum Ausgangspunkt seiner Recherchen macht - und sich in Gefahr bringt. Ein ehemaliger Seenotretter, der Navigator Atte Germer, schmückt den Weg dorthin immer wieder mit Dornen und kleinen Hinweisen, und schließlich nimmt er sich das Leben. Zu viel Wind im Kopf? Oder eine Schuld, über die er niemals redet? Auch das Leben des Kapitäns Peiser bietet Hinweise, und auch hier wird viel verschwiegen, von seiner Tochter, seiner Witwe, seinen ehemaligen Kollegen.
„Er war als Kind Flüchtling gewesen, hab ich damals gehört. Wenn er mich mal wieder runtergeputzt hatte, habe ich daran gedacht. Wer einmal flüchten musste, bleibt immer auf der Flucht, sagt man. Und vertraut keinem, denke ich dann.“
Gegen das Schweigen
Mathijs Deen gelingt es mit kleinen, sorgfältig eingesetzten Hinweisen, große Horizonte hinter den kleinteiligen, mühseligen Recherchen auf den Inseln aufzuziehen - Flüchtlingsschicksale, Liebesgeschichten, Verrat und Hass. Es reicht, sie anzudeuten, in all ihrer Schwere und tödlichen Wirkung, ohne sie geschwätzig auszubuchstabieren, denn die Menschen am nördlichen Meer verschwenden eben keine Wörter. In jedem Satz des Autors könnten sich entscheidende Hinweise verbergen, man muss nur offen dafür sein. Liewe Cupido selbst hat bei der Therapeutin Miriam Gehör für sein Schweigen gefunden, und der Roman gönnt ihm die Chance, das Schweigen zu durchbrechen, weil es ihn immer mehr quält.
„Dass er nicht allein sein sollte, aber auch, dass er in ihrem Haus einen Raum haben werde, in dem er für sich sein könne. Und dass er der Kapitän eines Schiffs mit lauter Dämonen im Laderaum sei. Auf See habe er nichts davon gemerkt, aber sobald er einen Hafen angelaufen habe, seien die Dämonen alle an Deck gekommen.“
In seinem Kampf mit den eigenen Dämonen kommt er der Wahrheit näher, die sich im Schweigen um den Tod des Kapitäns verbirgt, und vor Alleingängen scheut er nach wie vor nicht zurück. „Retter reden gern, sagen aber nix“ – mit Gespür für die leisen Töne und dem weiten Blick aufs Meer ist Matthijs Deen wieder ein großartiger und ungewöhnlicher Kriminalroman gelungen.
(Lore Kleinert)
Mathijs Deen, *1962, niederländischer Journalist und Autor von Romanen, Kolumnen und Kurzgeschichten
Mathijs Deen „Der Retter“
aus dem Niederländischen übersetzt von Andreas Ecke
Roman, Mare Verlag 2024, 378 Seiten, 23,00 Euro
eBook 14,99 Euro, AudioCD 17,52 Euro
Weiterer Buchtipp zu Mathijs Deen
"Der Holländer", Kriminalroman