Cloé Mehdi
Nichts ist verloren
Mattia ist elf Jahre alt und lebt in prekären Verhältnissen: Sein Vater hat sich vier Jahre zuvor das Leben genommen, seine Mutter ist verschwunden. Sein Vormund Zé, bei dem er lebt, hat sich nach dem Selbstmord einer Mitschülerin eine eigene Welt aus Zahlen und Gedichten geschaffen, und dessen Freundin Gabrielle will lieber sterben als leben.
Ständig auf der Flucht
"Zwei Jahre sind sie zusammen, in denen sie das Nichts miteinander geteilt haben."
Ein Halbbruder interessiert sich nicht für ihn, und seine Schwester ist beständig auf der Flucht, wovor auch immer. Kein Wunder, dass der Junge, aus dessen Perspektive die triste Umgebung der französischen Vorstadt beschrieben wird, wenig Hoffnung und sehr viele Sorgen hat.
"Wie sehr ich mich auch bemühe, ich kapiere einfach nicht, wie die ticken: Zé, die Erwachsenen, die Welt…Mein Interesse an diesem Universum nimmt von Jahr zu Jahr ab, scheint mir. Wenn das in diesem Tempo weitergeht, dann bin ich in zwei Jahren nur noch eine leere Hülle."
Lange Schatten
Dennoch und als beherzte Gegenbewegung gegen die Leere gelingt es der jungen Autorin (Jahrgang 1992) in ihrem zweiten Roman, durch den Blick dieses traurigen Kindes ein Gesellschaftspanorama zu entwerfen, das ebenso genau wie unbequem ist. Der Mord an einem Fünfzehnjährigen wirft einen langen Schatten: Immer wieder taucht sein Konterfei in blutroter Farbe an den Mauern auf, denn sein Tod, an dem Polizisten beteiligt waren, wurde nie gesühnt. Mattias Vater spielte dabei eine Rolle, denn er hatte als Sozialarbeiter den Aufruhr beobachtet und sein seelisches Gleichgewicht endgültig verloren. Mattias Ängste, gegen die sich der Junge mit Fühllosigkeit zu wappnen sucht, verweisen immer wieder auf die psychiatrische Versorgung, die er nur als unmenschlich fürchtet.
"Ich habe keine Ahnung, wie ich es anstelle, dass man mich so leicht vergisst. Es wäre toll, wenn ich das absichtlich tun und mal eben ein Geist werden könnte. Manchmal frage ich mich schon, ob ich überhaupt lebe."
Zugleich ist die Psychologin Nouria die einzige, der er vertraut.
Suche nach Antworten
Mit großem Feingefühl entwirft Cloé Mehdi die ambivalenten Interventionen gesellschaftlicher Institutionen – der Schule, der psychiatrischen Einrichtungen, der Justiz, der Polizei. Mattia hat zwar wenig Illusionen, aber eine große Sensibilität für Ungerechtigkeit und einen unstillbaren Drang, endlich Antworten zu bekommen. Ein Kind wird zum Zeugen, wie Ungerechtigkeit sich nach Jahrzehnten ins Zusammenleben in den Banlieues eingefressen hat und weiter wirkt. Die Autorin findet den richtigen Ton, um seine Stimme hörbar zu machen, und als die Schatten einer verschwiegenen Vergangenheit auch ihn einzuholen drohen, folgt man seiner verzweifelten Suche nach Wahrheit mit größter Spannung und Empathie.
Vertrauen und Wahrhaftigkeit
Immer wenn Resignation und Bitterkeit übermächtig zu werden drohen, tut sich in den Beziehungen zu seinem Vormund Zé, zur traurigen Gabrielle, zu Nouria ein Spalt auf, durch den das Licht möglicher Veränderung dringt. Es geht dabei um Vertrauen und Wahrhaftigkeit, und die Unbeirrbarkeit dieses Jungen lässt Mehdis Roman Noir gerade in Zeiten erneuten Aufruhrs auf den Straßen Frankreichs zu einem ungewöhnlichen und sehr empfehlenswerten Leseerlebnis werden.
(Lore Kleinert)
Cloé Mehdi, *1992 nahe Lyon, französische Schriftstellerin, für ihre beiden ersten Romane erhielt sie bereits 7 Literaturpreise
Cloé Mehdi "Nichts ist verloren"
Aus dem Französischen von Cornelia Wend
Roman, Polar Verlag 2018, 330 Seiten, 18 Euro