Leonardo Padura
Die Durchlässigkeit der Zeit
"Und erst sein Geist: verkümmerte oder für immer verlorene Träume, Pläne, Wünsche. Das obszöne Nahen des Alters…" Leonardo Paduras wunderbarer Ermittler Mario Conde leidet: Sein sechzigster Geburtstag steht bevor, und ihm fehlen Glaube und Hoffnung, Körper und Geist neu beleben zu können.
Elende Verhältnisse
Doch an Liebe fehlt es ihm nicht: die alten Freunde werden sich auch diesmal mit ihm beraten und betrinken, während seine schöne Freundin den nüchternen und gesundheitsfördernden Gegenpol abgibt. Als ein weiterer Freund aus Kindheitstagen ihn um Hilfe bittet, um seine gestohlene schwarze Madonna wiederzufinden, zögert Conde nicht, und diesmal führt ihn seine Suche nicht nur in die Restaurants und Villen von Kubas neureichen Kunsthändlern, sondern auch in die "Welt der Unsichtbaren", die chaotischen Ansammlungen von Elendshütten im Niemandsland Havannas, wo sich seit Jahren die Armutsflüchtlinge aus dem Osten der Insel festsetzen.
Revolutionäre Generation
Conde, Paduras seit vielen Jahren bewährter Cicerone durch Kubas Geschichte und die Illusionen seiner einstmals revolutionären Generation, stößt auf elende Verhältnisse, die alles Vertraute in den Schatten stellen.
"Doch er wusste auch, dass er, wie seine desorientierten, umherirrenden Landsleute, an den meisten Tagen am Hungertuch nagte. Er fragte sich, ob, wenn er auf der Suche nach alten Büchern durch die Straßen lief, die anderen ihn sahen, wie er sie sah: lauter arme Seelen. Und vor allem: Interessiert sich überhaupt jemand wirklich für das erbärmliche Schicksal, dass so viele Menschen seit so vielen Jahren miteinander teilten?"
Die schwarze Madonna entpuppt sich als eine der ersten Marienstatuen, die nach der Wiedereroberung Jerusalems in Europa auftauchten, verehrt von den Templern und Kreuzrittern, die von ihrer Macht überzeugt waren.
Schwarze Madonna
Wie schon in seinem Roman "Ketzer", als er die Geschichte der Juden Europas mit der Kubas verknüpfte, entwickelt Padura einen eigenständigen Erzählstrang, der von der Geschichte der schwarzen Madonnen und der Männer, die sie retteten und nach Nordspanien brachten, erzählt: vom Tempelritter Antoni Barral im Jahre 1291, als die letzte christliche Bastion Akkon fiel, vom Knappen gleichen Namens, dessen Herr 1472 im Anblick der Madonna von der Pest geheilt wird, von seinem Nachfahren Antoni Barral, der die Statue vor der Revolution 1936 nach Kuba bringt. Ihre Geschichte ist für den meisterlichen Erzähler Padura Anlass, sich mit menschlichen Konstanten wie der Gier nach Macht in den endlosen Kriegen der Geschichte auseinanderzusetzen. Mitunter gerät das etwas sehr breit pädagogisierend, wird aber durch Paduras Bezug auf die Gegenwart Kubas aufgefangen, dessen Werteverlust und moralischen Verfall er beharrlich anprangert.
"Hast du eine Ahnung davon, wie sich der Glaube, die Suche nach dem Guten und Wahren, pervertieren kann, wenn er keine Abweichung duldet? Wenn er zugespitzt wird im Namen eines Gottes, eines Prinzips oder einer Idee? Dann verwandelt er sich in entfesselten Hass!"
Kulturelle Verantwortung
Für Mario Conde und seine Freunde stellt sich die Frage nach Glaubensinhalten und ihrem Sinn angesichts der Veränderungen Kubas ebenfalls neu. Was geschieht, wenn die Verelendung fortschreitet, und wenn noch mehr Menschen, nunmehr mit Erlaubnis, die Insel in Richtung Norden, also Miami verlassen? Was, wenn die Kunstwerke der Insel dem allgemeinen Ausverkauf zum Opfer fallen? Die mittelalterliche Madonna, deren Wundertätigkeit von denen, die sie erlebten, nicht in Zweifel gezogen wird, ist insofern auch ein Bild für die Verantwortung für Kunstwerke, die weite Wege zurücklegten und immer wieder gefährdet sind. Der ehemalige Polizist Conde jedenfalls bewahrt sich seinen kritischen Blick auf das
"torkelnde, flatterhafte Land, welches das seinige war. Hier gab es keine Logik, oder zumindest keine für Rationalisten durchschaubaren Regeln. Gelassen bleiben, den Weg des geringsten Widerstands wählen, den Kopf einziehen, wenn es eng wird, nicht mit dem Feuer spielen, an dem man sich verbrennen kann."
Das aber ist nicht die Sache des tapferen Conde, dessen gewundenen und spannungsgeladenen Pfaden durch Wunderglauben und reale Versuchungen man auch in diesem Roman gern folgt.
(Lore Kleinert )
Leonardo Padura, *1955 in Havanna, bekannter kubanischer Schriftsteller von Romanen, Erzählungen und Reportagen, lebt in Havanna
Leonardo Padura "Die Durchlässigkeit der Zeit"
aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein
Roman, Unionsverlag 2019, 448 Seiten, 24 Euro
eBook 18,969 Euro
Weiterer Buchtipp zu Leonardo Padura
"Die Durchlässigkeit der Zeit"