Dominique Manotti
Ausbruch
Sommer in Paris: An einem Junitag 1988 flaniert Filippo über die Champs-Elysees und ist glücklich. Er genießt das Hochgefühl, ein Buch geschrieben zu haben, und was er schreibt, ist zwar nicht wahr, für ihn aber wirklich. Oder nicht?
Einsam in Paris
Was im Februar des Vorjahres wirklich passierte, hat er längst durch die Geschichte ersetzt, die er erzählen will und die ihm half, ein anderer zu werden. Den kleinen Ganoven aus der römischen Vorstadt hat er hinter sich gelassen: Carlo, den politischen Aktivisten der Brigate Rosse, dessen Flucht aus dem Knast er sich spontan und ungeplant anschloss und der ihn, kaum in Freiheit, verließ und bei einem Banküberfall erschossen wurde, hat er sich in seinem Roman neu erschaffen; als Freund, an dessen Leben er großen Anteil hatte. Sein unsicheres Selbst, die Einsamkeit als Nachtwächter in der Exilstadt Paris, will er um jeden Preis vergessen.
"Ich wollte leben, aber das war mir nicht bewusst, ich hatte nie die Worte, um all das zu sagen. Nie auch nur das Verlangen danach. Carlos machte mir klar. Wenn ich nicht die richtigen Worte finde, um zu sagen, wer ich bin, existiere ich nicht, nicht mal vor mir selbst."
Der unerwartete Erfolg seiner erfundenen Fluchtgeschichte lässt ihn zum Hätschelkind der literarischen Schickeria werden und schafft Raum für neue Träume.
Fiktion und Wirklichkeit
Fatal nur, wie sehr sein Roman mit der politischen Wirklichkeit kollidiert: Lisa, Filippos erster Kontakt in Paris und Carlos Geliebte, die seit sieben Jahren im Pariser Exil auf ihn wartet, setzt alles daran, die Wahrheit über die Erschießung ihres Freundes herauszubekommen. Sie wittert eine groß angelegte Operation gegen die Reste der radikalen Linken in Italien, deren Kriminalisierung zur Entlastung der extremistischen Neofaschisten genutzt werden soll, und Filippos Helden- und Gangstergeschichte passt genau in dieses Szenario.
Welle der Gewalt
Erinnern wir uns: Als Italien in der zweiten Hälfte der 70er Jahre eine ungeheure Welle der Gewalt erlebte, vergleichbar mit dem Terror der RAF, wurde die autonome Linke zerschlagen. Politische Morde und Terroranschläge der Neofaschisten, bestens vernetzt mit Geheimorganisationen innerhalb der NATO und CIA, wurden inszeniert, um die Regierungsbeteiligung der Kommunisten zu verhindern.
Politische Helden
Dominique Manotti, selbst Historikerin, gelingt es in diesem Thriller, den politischen Hintergrund mit der besonderen Geschichte eines Mannes und einer Frau höchst lebendig und glaubwürdig zu verknüpfen. Lisa ist verbittert und nicht bereit, sich einer Realität zu stellen, in der die politischen Helden von einst längst zu Bankräubern und Verlorenen geworden sind, deren Aktionen ins Leere laufen und Leben kosten. Sie zeigt dem jungen Mann, der ganz von unten kommt, die kalte Schulter, weil sie ihre Vergangenheit retten will.
Macht der Erinnerungen
Dass Filippo, inspiriert von den schönen Legenden vom gemeinsamen Kampf von Studenten und Arbeitern der späten 60er Jahre, seine ganz persönliche Aufstiegsbiografie konstruiert, ist ihr zuwider. Aus diesem tiefen Gegensatz bezieht der Roman große Spannung, und die Autorin erzählt überdies von der Macht der Worte, die Identität erschaffen – sei es in einem neuen Leben, sei es, indem die Erinnerungen unantastbar werden:
"Die Last der Vergangenheit ist jetzt schon so groß, die wiederkehrenden Albträume, das Exil, der Schmerz über die Niederlage, es muss zumindest die Gewissheit bleiben, dass der Kampf es wert war, geführt zu werden"
– eine Haltung, die auch bei uns dazu führte, über Teile dieser Vergangenheit hartnäckig und anhaltend zu schweigen. Ein großartiger Roman über die Nachhaltigkeit von Heldenlegenden und die Fallstricke von Wahrheit und Wirklichkeit.
(Lore Kleiner)
Dominique Manotti (Pseudonym von Marie-Noëlle Thibault) *1942 in Paris, französische Romanautorin und Historikerin
Dominique Manotti "Ausbruch"
Originaltitel "L'évasion" aus den Französischen übersetzt von Andrea Stephani
Verlag Argument Hamburg ariadne krimi, 256 Seiten 17 Euro