Joakim Zander
Der Bruder
Zwei junge Frauen auf dem Weg nach Stockholm: Yasmine Ajam ist in der Trabantenstadt Bergort aufgewachsen, abgehauen, wurde Trendscout in New York und fühlt sich schuldig. Ihr kleiner Bruder Fadi blieb und hat sich vom IS anwerben lassen. Doch offenbar ist er nicht tot und Yasmine verschafft sich einen Auftrag, um ihn zu suchen.
Verhasste Szenerie
Klara Walldéen lebt in London, trinkt zuviel und forscht für eine Menschenrechtsorganisation, die in Stockholm einen Bericht zum Einsatz privater Sicherheitsorganisationen vorlegen wird. Beide Frauen begegnen sich erst am Ende des Romans, doch zuvor nimmt der Autor Joakim Zander die Leser mit in die Szenen, in denen sich seine Helden auskennen – und die sie hassen. Yasmine soll einer Werbeagentur Wege in die Straßenkultur eröffnen, denn Rebellion lässt sich gut vermarkten:
"Sie betrachtete den grün schimmernden Kaftan, das Kaschmir, die Hornbrillen, die Silberohrringe, und sie dachte an die Bilder und an Bergort. Plötzlich war sie von den Menschen am Tisch und ihren blutsaugenden Blicken angeekelt, von ihrer Jagd nach etwas Authentischem, das man so lange zur Ader lassen konnte, bis es nur noch eine leere Hülle war. Und sie war von sich selbst angeekelt, weil sie ihre Herkunft verleugnete."
Begeistert vom Krieg
Fadi, ihr Bruder ist Teil der Straßenkultur, bis er an ihrer Aussichtslosigkeit verzweifelt und sein Heil im Dschihad sucht. In den stärksten Passagen des Romans erzählt er von seiner Begeisterung, die ihn von aller Vernunft entfernt und schließlich in den Krieg führt, weil er sich immer mehr in die schlichteste Weltsicht hineinsteigert,
"dass es eine einzige Hölle ist, Al-Assad und die Juden und die Amerikaner und die Schweden, alle miteinander. Was sie tun, um uns zu unterdrücken, uns zu erniedrigen, wie sie uns ins Lager oder fucking Ghettos stecken und uns zwingen, wie sie zu werden, aber nicht einmal das hilft. Nicht einmal wenn wir all ihre Wörter lernen und reiner als alle anderen singen, nicht einmal dann entlässt uns die Betonburg aus ihrer Umklammerung."
Verquere Ideale
Als er enttäuscht und auf der Suche nach den Verrätern seiner verqueren Ideale zurückkehrt, wird in der "Betonburg" der Aufstand angeheizt, und seine Schwester wird auf ihrer Suche nach ihm Zeugin, dass dabei hohe Geldsummen im Spiel sind. Im Zusammentreffen mit der jungen Wissenschaftlerin Klara stellt sich schließlich die entscheidende Frage:
"Was sollte man tun, wenn es einem Unternehmen gelang, eine eigene Wirklichkeit zu kreieren, indem es Missstände gezielt verursachte und gleichzeitig einen 'unabhängigen Experten' bestach, um eine Lösung zu präsentieren, die der Firma gelegen kam?"
Wirklichkeit der Vorstädte
Joakim Zanders Thriller versucht, einen globalen Zusammenhang aufzuzeigen, doch diese Verbindung wirkt oft sehr bemüht und aufgemotzt. Eine Stärke seines zweiten Bandes mit Klara Walldéen ist aber, dass er die Wirklichkeit seiner jungen Protagonisten gut kennt, ihre direkte Sprache, ihre Verstrickungen, aus denen kein Weg hinauszuführen scheint. Die Betonburgen der Vorstädte schildert er ebenso überzeugend wie das, was sich hinter den Glitzerfassaden der neuen Innenstädte verbirgt, etwa in London:
"Diamanten und Kobalt glitzerten in der frühen Abenddämmerung am Horizont, stolze, spiralförmige Wolkenkratzer. Doch hinter dieser Fassade schlängelten sich die Straßen und Gassen immer noch und schienen trügerisch die Richtung zu ändern. Kleine, heruntergekommene Wohnungen, Dreck und Smog. Fahle Gesichter im gelben Licht der Busscheinwerfer, auf dem Heimweg mit einer Tüte Chips zum Abendessen. Tagelöhner aus der Ukraine und Griechenland, die aus dem Weg hechteten, um den Limousinen der Chinesen Platz zu machen – es war Dickens' London, von einem Oligarchen neu zusammengestellt."
Spannend: Die Hartnäckigkeit, mit der Yasmine nach ihrem verloren geglaubten Bruder sucht und der Blick hinter die Krawalle in den Vorstädten. Dass alles mit allem zusammenhängt, bleibt als Einsicht allerdings ziemlich banal.
(Lore Kleinert)
Joakim Zander *1975 in Stockholm, schwedischer Jurist bei der EU, lebt in Lund/Südschweden
Joakim Zander "Der Bruder"
Deutsch von Nina Hoyer
Thriller, rowohlt Polaris 2016, 464 Seiten, 14,99 Euro
eBook 12,99 Euro