Ron Corbett
Preisgegeben
"Die harten Zeiten waren zurückgekehrt. Die Geschichte war leicht zu verstehen. Sie wiederholte sich, und mit ihr die harten Entscheidungen, die in harten Zeiten notwendig waren.“
Einsame Hütte
Senior Detective Yakabuski aus Springfield macht sich mit zwei jungen Kollegen auf zum Ragged Lake. In einer einsamen Hütte an seinem Ufer finden sie drei Leichen, die ein junger Waldarbeiter entdeckt hat: Ein Paar wurde mit seiner kleinen Tochter brutal dahingemetzelt. Es ist Winter, ein Sturm zieht auf, und von der einzigen Lodge in der einsamen, völlig entlegenen Gegend aus beginnen die Polizisten eine aussichtslos erscheinende Suche. Yakabuski, der fast drei Jahre undercover gegen sich bekämpfende Rockerbanden ermittelt hat, kennt den See aus seiner Kindheit. Als er mit seinem Vater Glasaugenbarsche und Hechte angelte, war die ertragreiche Fabrik längst geschlossen, und der Holzabbau, mit dem Thomas O’Hearn, ein Steinmetz aus dem schottischen Aberdeen, vor mehr als hundert Jahren ein Vermögen verdient hatte, fiel der Krise der Papierindustrie zum Opfer.
Mit knurrenden Mägen
Hart war das Leben hier in den großen Wäldern im Norden immer, und der kanadische Autor und Journalist Ron Corbett beschreibt die Geschichte der Menschen dort mit historischer Akribie und empathischen Blick:
"Beim Flößen für O’Hearn kamen viele Männer ums Leben, aber es gab immer welche, die an ihre Stelle traten, weil sie dem Stück kargen, steinigen Landes, das ihnen von der Regierung zugeteilt worden war, nicht genug zum Leben abringen konnten. Männer, deren Kinder den ganzen Tag mit knurrenden Mägen neben ihnen herliefen und immer magerer wurden, bis der Wind durch sie hindurchfuhr und ihre kleinen, dürren Knochen leise klappern ließ."
Während die Beamten eine illegale Methküche entdecken und einen der Rocker, die für die Drogenhändler die Drecksarbeit erledigen, gefangen nehmen, wird die Geschichte der Arbeiterlager erzählt. Hunderte Menschen beherbergten sie in der Blütezeit, Nachkommen der Einwanderer ebenso wie indigene Cree. Eine von ihnen ist Lucy Whiteduck, die schöne Frau, die in der Hütte erschossen wurde. Die betagte Anita Diamond, die im früheren Arbeiterlager der Cree, dem 'Five Mile Camp' eine Musikkneipe mit Puff hatte, in den 70er Jahren, als die Fabrik noch drei Schichten fuhr, übergibt Lucys Tagebuch an Detective Yakabuski.
Unbequeme Antworten
Das Verhängnis kommt näher, und dem authentisch gezeichneten Detective mit polnischen Wurzeln werden die harten Entscheidungen harter Zeiten abverlangt. Zwar sind die beiden Erzählstränge nicht besonders passgenau miteinander verzahnt, doch das Tagebuch erzählt eine bittere Geschichte vom Überleben unter allerhärtesten Bedingungen, denn Lucy ging als sehr junges Mädchen in die Stadt, nachdem die Fabrik geschlossen wurde. Haben ihr die Rocker der Biker Gang, in deren mafiöse Machenschaften sie verwickelt war, nicht verziehen, dass sie mit ihrem Mann, einem traumatisierten Veteran des Bosnienkrieges, nach Geburt ihrer Tochter in die Einsamkeit am Ufer des Sees flüchtete?
Ron Corbett verweigert seinen Ermittlern und uns Lesern und Leserinnen bequeme Antworten, und seine Stärke ist die Schilderung der Verelendung, die die Menschen nach dem Zusammenbruch ihrer Verdienstmöglichkeiten entwurzelt, antriebslos oder gewalttätig werden lässt.
"Yakabuski erinnerte sich an eine Zeit, in der Arbeit und damit das Überleben und das Wohlergehen jeder Familie etwas Sicheres waren. Man konnte sich darauf verlassen. Wenn er sich jetzt umsah, sah er Menschen, die so ängstlich waren, so entwürdigt und mit Füßen getreten, so voller Sorge um ihre Zukunft, dass sie sich nicht viel anders verhielten als wilde Tiere."
Sinnlose Gewalt
In seinem lesenswerten Nachwort entwickelt Ulrich Noller die ganze Bandbreite an Spannungen, aus denen Ron Corbett schöpft und aus denen er seine albtraumhafte Suche nach der Quelle sinnloser Gewalt konstruiert. Kein Country Noir, wie Noller zu Recht anmerkt, sondern ein Nature Noir, in dem der Mensch ums Überleben kämpft wie jedes andere Raubtier auch. Und die Gleichung, Kanada sei wie USA ohne Waffen, geht keinesfalls auf.
(Lore Kleinert)
Ron Corbett, Autor, Journalist und Rundfunksprecher, lebt in seiner Geburtstadt Ottawa
Ron Corbett "Preisgegeben"
aus dem kanadischen Englisch von Sven Koch
Kriminalroman, Polar Verlag 2020, 400 Seiten, 14 €