Wu Ming
54
"Hier haben die Wörter eine besondere Bedeutung, sie füllen den Mund aus … Wörter sind nicht nur dazu da, verstanden zu werden, man spricht sie aus, weil man sie gerne sagt, aus Lust am Sprechen."
1954
Lucky Luciano, nach Neapel heimgekehrter Gangster aus New York, denkt über Italien nach, dessen Regierung er für extrem korrupt hält. Den Rauschgiftmarkt will er umgestalten, in diesem besonderen Jahr 1954, als Vietnam nach der Niederlage der Franzosen geteilt wird, Italien Istrien und Dalmatien an Titos Jugoslawien verliert und Triest bekommt, der KGB entsteht, Deutschland der NATO beitritt und die Nachkriegszeit endgültig vorbei ist.
Objekt der Begierde
In diesem ungewöhnlichen Roman ist die Lust am Sprechen tatsächlich die Hauptfigur: alles spricht - der Fernseher zum Beispiel, ein McGuffin ElectricDeluxe, kein simpler Einrichtungsgegenstand, sondern Objekt der Begierde vieler, die ihn durchs ganze Land schleusen und ihm nichts ersparen:
"Mit wem zum Teufel glaubten diese Höhlenmenschen es zu tun zu haben?"
Ein erstklassiger McGuffin, wie von Alfred Hitchcock erdacht, und siehe da, auch Hitch selbst taucht auf, weil er in Nizza in diesem Jahr seinen berühmten Film mit Grace Kelly und Cary Grant dreht. Doch da hat der Schauspieler seine große Krise schon hinter sich, denn als er als möglicher Tito-Darsteller an der jugoslawischen Küste landet, rettet ihn ein junger Italiener aus den Fallstricken der Geheimdienste, die ein böses Spiel inszenieren.
Zwischen allen Stühlen
Pierre Capponi, auf den Namen Robespierre getauft, ist hier auf der Suche nach seinem Vater, einem der Partisanen, die nach dem Krieg nicht zurückkommen konnten und zwischen allen Stühlen landen.
"Wenn das Zusammentreffen mit Cary Grant einen Sinn ergab, dann diesen. Er stellte sich vor, wie Cary ihm die Hand auf die Schulter legte und sagte: Gib nicht auf, Robespierre. Egal, ob man gewinnt oder verliert, wichtig ist, dass man tadellos dasteht. Das ist nicht einfach, denn wer leben will, muss sich zuweilen die Hände schmutzig machen … Stil heißt, sich selbst beweisen, dass man den Dingen gewachsen ist"
– und um diesen Beweis kämpfen eigentlich alle, stolpern und schlagen die irrwitzigsten Volten, und je weiter man liest, desto größer wird das Vergnügen daran.
Utopie einer Welt
Cary Grant, der als Archibald Alexander Leach auf Händen lief und jonglierte, befreite sich als erster Hollywood-Schauspieler aus den Abhängigkeiten von den Studios. Er muss sich jetzt, 1954, neu erfinden, und die Politik interessiert ihn dabei am allerwenigsten, sondern er kreist um sich:
"Den Göttern die Idee des "Cary Grant2 entreißen und sie der Welt schenken, damit die Welt sich ändere, und eintauchen in diese veränderte Welt, sich in ihr verlieren und nicht wieder auftauchen! Die Entdeckung eines Stils und die Utopie einer Welt, in der er zu kultivieren wäre."
Wie er die bizarre Jugoslawienmission ausgerechnet fast an der falschen Krawatte eines eigens für ihn eingestellten Doppelgängers platzen lässt und sich über die Stillosigkeit des ersten James-Bond-Abenteuers immer wieder erregt, ist von großartiger Komik.
Am Rande der Legalität
Die Welt der ehemaligen Partisanen, die Bologna befreit hatten und feststellen müssen, dass ihre Partei ebenso korrupt ist wie alle anderen, ist düsterer:
"Das Leben hatte einen Sinn in jenen Tagen, man lebte nicht nur von einer Stunde zur nächsten, von einem Tag zum anderen. Warum es verleugnen? Ettore war sich sicher: Jene Monate in den Bergen waren die schönsten seines Lebens gewesen."
Sie trauern dieser Zeit nach, müssen sich durchschlagen, hart am Rand der Legalität, während in der Welt der Gangster nur der Profit zählt. Steve Clemento, Lucianos rechte Hand, will vom Drogengewinn genügend abzweigen, um seinen Boss verlassen zu können, "das Unglück in Profit verwandeln. Wiederauferstehen."
Komplizierte Zeiten
Im Wunsch nach Wiederauferstehung berühren sich die Welten der Akteure, ihre Bahnen kreuzen sich mitunter, die Verhältnisse verwirren sich bis ins Absurde, und die alten Vorbilder taugen in der neuen, komplizierteren Zeit alle nicht mehr:
"Das sind wir also, dachte Pierre, Überlebende des vergangenen halben Jahrhunderts. Die Capponi. Partisanen, Revolutionäre, Kämpfer, das schon, ohne Zweifel, geschlagen, vielleicht enttäuscht, sogar Schmuggler, Dissidenten und Sturköpfe. Vittorio, der Held, Nicola, der Harte, und Robespierre, der Tänzer."
Gegen den Strich
Das italienische Autorenkollektiv Wu Ming, dessen Name so viel bedeutet wie „ohne Namen“ oder "fünf Namen" und als Verbeugung vor den chinesischen Dissidenten verstanden werden will, bürstet die Geschichte gegen den Strich und spürt ihr utopisches Potenzial jenseits der offiziellen Lügen und Anmaßungen auf, in der Sprache der Vielen, den "Gedanken aller Menschen aller Zeiten und Länder", wie der Dichter Walt Whitman in seinem "Song of myself" schrieb, denn "dies ist die gemeinsame Luft, die den Erdball badet". Das ist so gut gelungen, weil die Autoren keiner surrealistischen Zuspitzung aus dem Weg gehen und auch noch die kleinste Stimme, die Sprache der nebensächlichsten Person ernst nehmen, und weil Wu Ming darauf vertraut, dass das Gespräch selbst in der Niederlage nicht verstummen wird.
Ein Witz zum Abschluß
Deshalb am Ende – außer der dringenden Leseempfehlung - ein Witz:
"Ein Deutscher und ein Neapolitaner laufen durch die Wüste, als plötzlich ein Löwe auftaucht. Der Neapolitaner zieht sofort ein Paar Turnschuhe an. "Auch mit Turnschuhen bist du nicht schneller als der Löwe", erklärt ihm der Deutsche. "Das muss ich auch nicht, es reicht, wenn ich schneller bin als du."
(Lore Kleinert)
Wu Ming "54"
Aus dem Italienischen übersetzt von Klaus-Peter Arnold
Verlag Assoziation A 2015, 526 Seiten, 24,80 Euro
Weiterer Buchtipp zu Wu Ming: Altai