Wu Ming
Altai
Venedig 1569. Eine gewaltige Detonation erschüttert die Serenissima. Das Werftgelände Venedigs, das Arsenal, steht in Flammen. Die Jagd auf die Schuldigen wird eröffnet. Manuel Cardoso, ein konvertierter Jude, der sich Emanuele de Zante nennt und ein Spitzel im Dienst der mächtigen Dogen ist, verdächtigt unzufriedene Hafenarbeiter.
Aus der Heimat vertrieben
Doch sein Geheimnis wird verraten und Cardoso selbst als Verursacher beschuldigt. Er flieht, kann sich dadurch der Verhaftung entziehen und gelangt über Ragusa und Thessaloniki nach Istanbul. Hier, im Zentrum des Osmanischen Reiches, lernt er Joseph Nasi kennen, Spross einer jüdischen Bankiersfamilie. Nasis Familie wurde aus Spanien und Portugal vertrieben, ließ sich später in Venedig nieder, ohne den Nachstellungen der Inquisition entgehen zu können. Vor dem Hintergrund der kollektiven Verfolgung organisierte sie ein gigantisches Fluchthilfenetzwerk, um die aus Venedig vertriebenen Juden in Sicherheit zu bringen.
Imperiale Ansprüche
Am Bosporus gewinnt Joseph Nasi die Gunst des Sultans und versucht, auf Zypern einen neuen Zufluchtsort im Mittelmeer zu schaffen - mit Hilfe der militärischen Macht des Osmanischen Reichs. Aber es gibt Widerstände:
"Sie sagen, Zypern sei eine fixe Idee von mir, eine Belohnung für die Dienste, die ich dem Sultan erwiesen habe … obwohl sie genau wissen, dass ich allen Heimatlosen dieser Erde unterschiedslos einen sicheren Zufluchtsort anbieten will: für Juden, konvertierte Mauren, für Häretiker und Sklaven.“
Hintergrund des in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts angesiedelten Romans sind die imperialen Ansprüche der Republik Venedig und ihre militärischen Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich, die 1571 in der sagenhaften Seeschlacht von Lepanto gipfelten.
Autorenkollektiv
Mit "Altai“ hat Wu Ming einen fesselnden Roman über Macht, Verfolgung und religiöse Toleranz vorgelegt, der thematisch an den Bestseller-Roman "Q" von Luther Blissett anknüpft, einem historischen Roman über die Reformationszeit in Deutschland, und die Geschichte der Familie Nasi wieder aufnimmt. Dabei steckt hinter Wu Ming, was auf chinesisch "fünf Namen“ bedeutet, ein italienisches Autorenkollektiv, das aus dem Pseudonym "Luther Blissett“ hervorging.
"Luther Blissett“ war ein seit den frühen 90er Jahren in linken italienischen Aktivistenkreisen gebräuchliches, gemeinschaftliches Pseudonym von Künstler*innen, die sich als "Partisanen des Literaturbetriebs" verstanden. Auch "Q" ist ein historischer Roman, der die Anfänge des modernen Finanzkapitalismus nachvollziehbar macht und die groteske Seite des Geldsystems darstellt und kritisiert. Der Roman "Q" endet im Jahr 1555. "Altai“ nimmt den Faden der Geschichte 15 Jahre später wieder auf.
Eine bessere Welt
In den Wu-Ming-Romanen geht es um Schicksale von Gruppen, Nationen und Glaubensrichtungen – und stets um die Frage, wie eine Welt beschaffen sein müsste, in der nicht Krieg und Gewalt erste politische Mittel sind. Neben höfischen Intrigen, Entführungen, Belagerung von Städten und imperialen Ambitionen bietet der ungemein dicht und rasant erzählte Roman faszinierende Beschreibungen der schillernden Metropole Istanbul und der Schönheiten Venedigs. Aber auch die Folterkeller der Stadt sind Thema, und Gewalt, Repression und Krieg im frühneuzeitlichen Mittelmeerraum sind durchaus drastisch in Szene gesetzt.
"Der lüsterne, verderbte Kaplan hatte zahlreiche Nonnen geschwängert und sie zur Abtreibung gezwungen. Am Tage seiner Hinrichtung war die Klinge stumpf gewesen. Jedenfalls hatte der Henker einen Vorschlaghammer nehmen und damit auf die Klinge einschlagen müssen, um den Kopf abzutrennen. Nach dreißig Schlägen war die Arbeit mit einem Schlachtermesser zu Ende gebracht worden.“
"Altai" ist ein lehrreicher, spannender und unterhaltsamer Roman, in dem es dem linken Autorenkollektiv gelingt, historische Persönlichkeiten in die Geschichte so einzubinden, als wären sie noch präsent. Wie zuvor schon in Wu Mings 2015 erschienenen überaus verrückten Mafia- und Spionagekrimi " 54", beide großartig übersetzt von Klaus-Peter Arnold.
(Walter Langlott)
Das Autorenkollektiv Wu Ming besteht seit 2008 aus Roberto Bui, Giovanni Cattabriga, Federico Guglielmi und Riccardo Pedrini. Die Gruppe lebt und arbeitet in Bologna.
Wu Ming "Altai"
Aus dem Italienischen übersetzt von Klaus-Peter Arnold
Verlag Assoziation A 2016, 352 Seiten, 24 Euro
Weiterer Buchtipp zu Wu Ming: 54