Elizabeth Strout
Die Unvollkommenheit der Liebe
"Diese Geschichte hier, das ist meine. Meine. Und ich bin Lucy Barton." Das sagt die Ich-Erzählerin, und man hat dabei Gefühl, dass sie es hoch erhobenen Hauptes sagt. Mit Stolz in der Stimme.
Außenseiter
Denn die Kindheit der Lucy Barton war keine glückliche, sorglose oder gar harmonische, ebensowenig wie das Verhältnis zu ihren Eltern. Armut, Angst und soziale Isolation bestimmten das Leben:
"Wir waren Außenseiter, unsere Familie, selbst in dem winzigen Ort Amgash im ländlichen Illinois, wo auch andere Häuser heruntergekommen waren und gestrichen gehörten und keine Fensterläden hatten, keine Gärten, nichts fürs Auge … Auf dem Pausenhof riefen die Kinder: "Die Bartons stinken!" und rannten mit zugehaltener Nase weg;"
Lebenslange Bürde
Der Vater repariert landwirtschaftliche Maschinen, die Mutter näht. Das Geld reicht nie - asozial und arm, das ist eine Bürde für's ganze Leben. Lucy Barton hat es dennoch geschafft. Sie lebt in New York, hat einen netten Mann und zwei Töchter, ihre Liebe zu Büchern, von der Lehrerin schon in der Schule entdeckt, hat sie Schriftstellerin werden lassen.
Fünf Tage lang
Und dann bekommt sie nach einer unkomplizierten Blinddarmoperation plötzlich Fieber – eine lebensgefährliche Infektion, die sie monatelang ans Krankenhausbett fesselt und deren Ursachen die Ärzte nicht erklären können. Eines Tages kommt ihre Mutter zu Besuch. Jahrelang haben sie sich nicht gesehen, den Kontakt vermieden. Aber jetzt … Die Mutter sitzt beharrlich und ruhig an ihrem Bett, schläft fünf Tage lang nicht, hört zu, erzählt. Gemeinsam blicken sie auf das glitzernde Chrysler-Building und erinnern sich an Menschen von früher, an das Dorf ihrer Kindheit, an die Garage, in der sie lange Zeit leben mussten, an die Panik, als sie im Pick up eingesperrt wurde, weil es niemanden gab, der sich um sie kümmern konnte. Aber auch der Gedanke "so schlimm war es gar nicht" geht ihr nicht aus dem Kopf. Lucy lauscht der Mutter, glücklich und beruhigt.
Darüber reden
Sie blickt zurück auf ihre Kindheit, die sie abgeschüttelt zu haben glaubte, auf eine Ehe, die über der Krankheit zerbrach, denkt an eine Schriftstellerin, die wegweisend, weil innerlich gebrochen war. Der Vater schleppte Kriegserinnerungen mit sich herum, die ihn den deutschstämmigen Mann von Lucy hassen ließen:
"Es gibt zwei Sorten von Männern mit Kriegserlebnissen", sagte meine Mutter. "Die, die darüber reden, und die, die nicht darüber reden. Dein Vater gehörte zu denen, die nicht darüber reden."
Liebe, Fürsorge, Geborgenheit – das gab es nicht zuhause. Aber hier, im Krankenhaus, spürt Lucy zum ersten Mal so etwas wie Zuneigung und Schutz und eine behutsame Annäherung, die ihr helfen wird, gesund zu werden.
Vorsichtige Begegnung
Elizabeth Strout versteht es meisterhaft, die Beziehung der beiden Frauen auszuloten, in der Gefühle keinen Platz hatten und das Wort Liebe niemals ausgesprochen wurde. Sie beschreibt die Vorsicht, mit der sie sich wieder begegnen, lässt den Leser all' das Unausgesprochene und Tragische der Vergangenheit spüren, zeichnet das berührende Psychogramm einer Familie, die dem sozialen Druck nur mit Mühe standhalten konnte.
Ahnung von Glück
Ruhig, kühl und klar ist die Sprache, sie signalisiert Distanz - und, irgendwo zwischen den Zeilen auch Verständnis. Vielleicht sogar Vergebung. Und eine Ahnung von Versöhnung:
"Ich kenne den Schmerz noch so gut, den wir Kinder mit uns herumtragen, diesen Schmerz, der unser ganzes Leben vorhält, eine Sehnsucht, so groß, dass selbst zum Weinen kein Platz bleibt. Wir hüten ihn wie einen Schatz ... "
(Christiane Schwalbe)
Elizabeth Strout *1956 in Portland, Maine, US-amerikanische Bestsellerautorin, erhielt 2009 den Pulitzerpreis für Literatur, lebt in New York und Maine
Elizabeth Strout "Die Unvollkommenheit der Liebe"
"My Name is Lucy Barton" übersetzt von Sabine Roth
Roman, Luchterhand Literaturverlag 2016, 208 Seiten, 18 Euro
eBook 13,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Elizabeth Strout
Am Meer, Roman