Dave Eggers
Bis an die Grenze
Es ist ein Roadtrip, eine Aussteigergeschichte, eine verzweifelte Flucht: Josie hat ihre Praxis verloren, ihr nichtsnutziger Mann hat sie verlassen, will aber plötzlich die Kinder sehen, und pleite ist sie auch. Ein kleines Säckchen mit 3000 Dollar ist übrig geblieben. Damit wird sie mit den beiden Kinder nicht lange über die Runden kommen.
Abenteuer mit Risiko
"Sie hatte sie in dieses gemietete Wohnmobil verfrachtet und war losgefahren, ohne jeden Plan. Der Hersteller hatte das Fahrzeug 'das Chateau' genannt, aber das war dreißig Jahre her, und jetzt war es schrottreif und eine Gefahr für seine Passagiere und alle, die den Highway mit ihm teilten."
Ihre Kinder halten es für ein Abenteuer: Ana, die fünfjährige Tochter, rothaarig, wild und kaum zu bändigen, höchstens vom achtjährigen Paul, der sie ruhig und umsichtig zu besänftigen versteht und offenbar viel zu früh erwachsen werden muss. Irgendwie fühlt man sich an die Planwagen der ersten Siedler in Amerika erinnert, wenn Josie mit diesem rumpelnden und altersschwachen Vehikel quer durch Alaska kurvt, die Angst vor Verfolgung im Rücken, aber auch die Furcht, ihr Mann könnte mit seiner neuen Freundin auftauchen oder die Gespenster aus der Kindheit würden sie in ihrem verzweifelten Versuch, sich von ihnen zu befreien, einholen.
In den Kinderschuhen
Aber vielleicht will Dave Eggert auch genau das erreichen: Erinnerungen an ein archaisches, patriotisches Amerika, als die Zivilisation noch in den Kinderschuhen steckte und es friedfertiger und selbstloser zuging als in den Zeiten dieses alle Menschlichkeit verdrängenden Turbo-Kapitalismus. Als junge Zahnärztin hat sie die Folgen erlebt, verlor die eigene Praxis, weil eine rachsüchtige Patientin sie verklagte.
"Ihre Praxis war futsch, und es gab keine Gedenktafeln, kein Dankeschön. Ihre Mitarbeiter machten sie verantwortlich für den Untergang der Praxis und den Verlust ihrer Arbeitsplätze, … nicht das kannibalische Rechtssystem, nicht die Abgründe der moralischen Ordnung, sondern Josie."
Traumatische Bilder
Gefahren und Abenteuer sucht Josie eigentlich nicht, eher Frieden und Geborgenheit. Nur möglichst weit weg muss es sein, damit sie wieder zu sich finden kann. Ehe das geschieht, in einem abgelegenen kleinen Haus mitten in den Wäldern Alaskas, die gerade von einer dramatischen Brandkatastrophe heimgesucht werden, muss sie durch kleine und große Gefahren gehen, findet an unmöglichen Orten Unterschlupf und immer wieder Hilfe von Menschen, von denen sie es nicht erwartet, oft sind es selbst Aussteiger. Sie lernt die Ödnis der Mobile Home Parks Alaskas kennen und die grenzenlose Weite unbewohnter Landschaften, sie zweifelt an ihren Qualitäten als Mutter und bewundert Mut und Tapferkeit ihrer Kinder und trifft schließlich irgendwo in einer kleinen Stadt auf ein Laienorchester, das ihre traumatischen inneren Bilder zum Klingen bringen und Ängste auflösen kann.
Kampf ums Überleben
Dave Eggers hat in diesem Roman viele Klischees, reichlich wilde Romantik, den amerikanischen Traum und eine Menge Figuren untergebracht, die das alte Amerika und den damit verbundenen Pioniergeist suchen. Aber er erzählt eben auch - stilistisch nicht besonders kunstvoll - die packende Geschichte einer Selbstfindung, die immer wieder in Rotwein oder falscher Liebe oder Angst vor der Vergangenheit unterzugehen droht. Das ist manchmal kitschig, auch sentimental und bisweilen bizarr.
Dennoch: Ein spannender Abenteuerroman mit liebenswerten und verschrobenen Figuren, in dem der Autor den einsamen Kampf um persönliche Freiheit und Unabhängigkeit schildert. Mit sozialkritischem Hintergrund.
(Christiane Schwalbe)
Dave Eggers *1970 in Boston/USA, Schriftsteller, Drehbuchautor und Herausgeber von Literaturzeitschriften, erhielt zahlreiche Literaturpreise, lebt in Kalifornien
Dave Eggers "Bis an die Grenze"
"Heroes of the Frontier" übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Kiepenheuer & Witsch 2017, 496 Seiten, 23 Euro
eBook 19,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Dave Eggers
"Der Circle"