Jami Attenberg
Die Middlesteins
"Essen war aus Liebe gemacht und Liebe aus Essen" – Edie wird mit dieser heimischen Botschaft groß – und dick. Sehr dick. Als die 300 Kilo Gewicht überschritten sind, droht sich die in den Ruhestand versetzte Anwältin endgültig zu Tode zu essen.
Familiäre Neurosen
Ihr Mann Richard verlässt sie und sucht Trost im Internet, sehr zum Missfallen seiner Kinder, der Lehrerin Robin und des Sohns Benny und seiner Familie. Kapitel für Kapitel entfaltet sich das Bild einer jüdischen Familie mit Schattenseiten und Neurosen, und unwillkürlich wünscht man sich, Woody Allen würde sich ihrer annehmen, mit gnädigem und scharfem Blick auf unstillbaren Hunger und beschädigten Lebenshunger in vielen Variationen. "Essen war einfach ein wunderbares Versteck", muss Richard Middlestein feststellen, als er sich seiner Frau spät wieder nah fühlt.
Spur des Schmerzes
Der Roman späht in die Verstecke der Mitspieler um Edie herum und beleuchtet das Geflecht aus Liebe und Hass, das ihre Beziehungen in Schach hält. Jamie Attenberg kombiniert Süße und Bitternis wie in einer der vielen Mahlzeiten und Buffetangebote und verfolgt, wie sich die Spur von Schmerz durch die Generationen zieht. Ihm zu entkommen, lässt die Attenbergs mit Edie als monströsem und dennoch liebenswürdigem Zentrum nach Auswegen suchen, die Selbstkontrolle und gesundes Selbstwertgefühl vermissen lassen, denn Essen ist hier nicht Liebe, sondern Ersatz.
Recht auf Schwäche
Doch wenn Sohn Benny vor den Operationen seiner Mutter in der Küche darüber wacht, dass sie nachts nichts verschlingt, spürt die Autorin auch die verborgenen Chancen zur Liebe auf, die, wie in jeder Familie, tragfähig sein können:
"Er respektierte seine Mutter, denn sie hatte ihn mit Liebe aufgezogen und war eine kluge Frau, wenn auch gleichzeitig unfassbar dumm… Er respektierte das allgemeine Recht auf Schwäche. Und aus diesem Grund erzählte er niemandem, dass er aufgeblieben war…Taktvoll bot er ihr Liebe und Schutz, und sie nahm halbherzig und argwöhnisch an. Es brachte sie einander nicht näher, aber es entzweite sie auch nicht."
Leser als Freunde
Verwundbar sind sie alle, die Middlesteins, und Edies monströser Körper zwingt sie dazu, Antworten zu finden, warum alles so aus dem Ruder laufen konnte. Die Autorin spiegelt dies in vielen unterschiedlichen Perspektiven, und in einem der stärksten Kapitel über die pompöse Bar-Mitzwa-Feier von Edies Enkelkindern bezieht ein kollektives "Wir" die Leser als Beobachter, mitfühlende Freunde und Beteiligte ein:
"Wir brachten es nicht fertig, sie anzusehen, sie, die ganz in unserer Nähe saß. Wir wollten uns nicht einmal vorstellen, dass unsere Ehepartner jemals so werden könnten wie Edie, die aufgehört hat, auf sich zu achten, oder Richard, der aufgehört hat, auf Edie zu achten. Plötzlich war es eiskalt im Saal, eine abscheuliche Mischung aus Leid und Sterblichkeit hing darin."
Gewichtiges Lesevergnügen
Edie, eine von uns, in deren Ablehnung wir uns der eigenen, trügerischen Sicherheit vergewissern, mit geringem Erfolg. Jami Attenbergs Studie über Appetit, Angst und ganz normales Unglück ist mit liebendem Blick und solidem Humor unterfüttert, verzichtet auf simple Lösungen und bietet so ein gewichtiges Lesevergnügen.
(Lore Kleinert)
Jami Attenberg *1971 in Illinois, sie hat Erzählungen und Romane veröffentlicht, lebt in Brooklyn, New York
Jami Attenberg "Die Middlesteins"
"The Middlesteins" übersetzt aus dem Englischen von Barbara Christ
Schöffling 2015, 264 Seite, 21.95 Euro
eBook 16,99
Weiterer Buchtipp zu Jami Attenberg
"Saint Mazie"