Jami Attenberg
Saint Mazie
"Einen Namen wie Mazie vergisst man nicht" – jedenfalls nicht, wenn man Mazie Phillips kannte, die im The Venice Filmtheater Karten verkaufte und den Obdachlosen in ihrer Stadt New York half, wo immer sie konnte, als die Wirtschaftskrise die Menschen in tiefes Elend stürzte.
So viele Geheimnisse
1907 holen ihre Schwester Rosie und ihr Mann Louis sie und ihre jüngere Schwester Jeanie nach New York, weg von ihren betrunkenen, prügelnden Eltern, und die zehnjährige Mazie beginnt, in ihr Tagebuch zu schreiben.
"Ich will Dir alles erzählen. Ich will jemand alles über mein Leben erzählen, aber bis jetzt hab ich es vergessen. Ich hab so viele Geheimnisse in mir. Nur dass ich einfach vergesse, sie rauszulassen … Ich hab Dich aus meinem Schrank gekramt, damit ich aus Leibeskräften schreien kann, ohne dass es jemand hört."
Was sie schreit, beobachtet, überlegt und beweint, all das hält Mazie in ihrer direkten, lakonischen Sprache festgehalten, kurz, bruchstückhaft, mit großen Zeitabständen zwischen 1907, als wir sie heranwachsen sehen, bis zum Beginn des zweiten großen Krieges des 20. Jahrhunderts.
Geschickte Konstruktion
Die Autorin Jami Attenberg macht das fiktive Tagebuch zum Herzstück und Rückgrat ihres Romans. Um die attraktive, resolute Frau mit dem großen Appetit auf Eleganz, Liebe und Alkohol herum gruppiert sie Erinnerungen von Menschen, die sie kannten, ihr Tagebuch später fanden oder auch nur von ihr hörten, offenbar befragt von einer Dokumentaristin - eine geschickte und tragfähige Konstruktion, die Mazies Geschichte in immer neuen Farben funkeln lässt wie ein vielstimmiges Kaleidoskop. Wir lernen George Flicker, Mazies Nachbarn seit Kindertagen kennen, ihre Schwester Rosie, der sie nach dem Tod ihres Mannes beisteht und ihrer wachsenden Verrücktheit viel von ihrer Freiheit und ihrem eigenen Leben opfert. Aus der hoffnungslosen Liebe zu ihrem unzuverlässigen Seekapitän Ben wird über viele Jahre eine Freundschaft, und die junge Nonne Schwester Te, die sie in ihrem Kassenhäuschen, ihrer ‚Zelle‘ vor dem Kino immer wieder um Hilfe für die Armen bittet, begleitet sie bis zu deren Tod.
Lebendige Geschichte
Mazies Selbstlosigkeit ist unprätentiös und so direkt und rau wie ihre Stadt selbst, von der sie nach dem Schwarzen Freitag 1929 schreibt, sie habe ihren Stolz verloren:
"So was habe ich noch nie gesehen. Ich stieg mit geschürztem Rock über die Männer im Rinnstein, aber dort lagen auch Kinder und Frauen, und sie waren über die ganze Insel verteilt. Vielleicht war ich blind, weil ich in Trauer war, vielleicht habe ich auch bloß zu lange in meiner kleinen Zelle gesessen, aber ich sehe erst jetzt, in was für Schwierigkeiten sie steckt, diese meine Stadt."
Die wirkliche Mazie Phillips, mit blondiertem Haar und schicken bunten Kleidern, wurde Anfang der vierziger Jahre vom Journalisten George Mitchell porträtiert, der auf ihren heldenhaften Einsatz für die Elendesten in New Yorks Bowery aufmerksam wurde. Jami Attenberg macht aus dieser Momentaufnahme eine lebendige Geschichte und verleiht ihr Stimme und Präsenz - in ihren Tagebucheintragungen wird, flankiert durch die Interviewschnipsel der anderen und Fragmente einer fiktiven Autobiographie, eine widersprüchliche, leuchtende Person kenntlich, der das Leben nichts schenkte und die tiefen Eindruck auf alle machte, die ihr begegneten. Dabei vermeidet die Autorin klug die Gefahr, alles über sie auszuerzählen, indem sie Raum für Fantasie schafft und Mazie viele ihrer Geheimnisse lässt:
"Und dann war sie fünf Jahre lang weg. Keine Eintragungen im Tagebuch... Fünf Jahre keine Mazie. Fünf Jahre, in denen wir auf unsere Fantasie angewiesen sind. Fünf Jahre, in denen wir Lücken ausfüllen müssen."
Kleine Fluchten
Die Frau mit dem großen Herzen, deren Bild sich aus dem Chor vieler Stimmen herausschält und deren eigene Stimme man umso eindringlicher vernimmt, beklagt zwar oft, wie eng ihr Käfig ist, das Kassenhäuschen ihres Kinos, das sie mit Postkarten ihrer jüngeren, herumvagabundierenden Schwester und ihres treulosen Geliebten pflastert. Auch erzählt der Roman von den engen Bindungen in Familien, die zum Überleben dazugehören und zugleich das Leben schwer machen. Rosies Kinderlosigkeit etwa lässt sie verzweifeln und immer wieder die Wohnungen wechseln, und Mazie zieht mit - "Wir ziehen wieder um, und da ist nichts zu machen. Ich kann mir ihr Geschrei nicht anhören." Dennoch blickt sie mit unglaublicher Lebenslust auf ihre kleinen Fluchten und gewinnt mit ihrer Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit nicht nur viele Herzen, sondern auch erhebliche Weltklugheit.
"Wenn ihr die Schönheit im Dreck nicht sehen könnt, dann tut ihr mir leid. Und wenn ihr nicht sehen könnt, warum die Straßen hier was Besonderes sind, dann geht doch nach Hause."
Am Ende bleibt Mazies Frage, wie man es schafft, gut zu sein, zwischen Familie und Freiheitsdurst, in bitterer Armut oder auch, wenn man genug zum Leben hat. Menschen wie sie sind die Antwort.
(Lore Kleinert)
Jami Attenberg *1971 in Illinois, sie hat Erzählungen und Romane veröffentlicht, lebt in Brooklyn, New York
Jami Attenberg "Saint Mazie"
Aus dem Amerikanischen von Barbara Christ
Roman, Schöffling & Co 2016, 384 Seiten, 24 Euro
E-Book 19,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Jami Attenberg
"Die Middlesteins"