Anne Weber
Ahnen
Ein Zeitreisetagebuch
Spurensuche – nach einem, der 100 Jahre früher geboren wurde als sie selbst. Anne Weber geht weit zurück in die Vergangenheit, um ihrem Urgroßvater Gesicht und Gestalt zu geben.
Warnung
Wir versuchen, mit der Autorin die Konturen zu entziffern, die sich in umfangreicher und mühevoller Recherche abzuzeichnen beginnen und doch immer irgendwie diffus bleiben. Nicht wirklich wird klar, warum Anne Weber unbedingt ihren Urgroßvater zum Objekt dieses Roman machte, aber sie warnt ihre Leser:
"Es ist der mit Worten gepflasterte Weg, auf dem sich dieses Buch vor- und rückwärts bewegen wird, wenn es nicht gerade auf Umwegen und Abzweigungen unterwegs ist … für Ungeduldige wird das Buch sich nicht eignen."
Wer hier Worte mit Steinen assoziiert, liegt nicht ganz falsch, denn leicht hat es der Leser nicht, der Autorin auf dem Weg zu den Ahnen zu folgen.
Nazigroßvater
Erklärtermaßen ist es also ein Buch für jene geduldigen Leser, die sich gern auf die intellektuellen Umwege der Autorin einlassen und auf verdrängte Nazivergangenheit der Familie zu stoßen. Aber gerade dies war nicht Absicht von Anne Weber, sie wollte keine "Nazigroßvatergeschichte" schreiben, bei der es stets um das Schweigen geht, in diesem Fall auch um das des Vaters, der es nicht bricht, aber darunter leidet
"Wenn überhaupt, sollte das Schweigen innerhalb der Familie gebrochen werden. Durch ihn. Aber Schweigen-Brechen und Wissen-Wollen sind zweierlei."
Auf der Suche nach dem Urgroßvater geraten alle Männer der Familie in den Blick. Auch der Großvater, ein überzeugter Nazi, der sie als uneheliche Tochter seines Sohnes nicht als Familienmitglied akzeptierte. Eine Kränkung, unter der sie noch immer leidet und die der alte Vater abfällig kommentiert: Sie wolle sich mit ihrem Buch doch nur "in die Familie einschreiben".
Scheinbar ungeplant
Sie erforscht als Ich-Erzählerin in ihrem "Zeitreisetagebuch" Schriften, Tagebücher, Orte, mischt sie mit Erkenntnissen, Zweifeln, Selbstzweifeln, Ungläubigkeit, Fragen, Erklärungen, Rückblicken. Das alles ist nicht chronologisch und seltsam ungeplant, unverhofft, scheinbar zufällig. Sie lässt sich gleichsam treiben in der Geschichte ihrer Familie, um diesen "Sanderling" wie sie den Urgroßvater nennt, greifbar zu machen – aber Sanderling, das ist auch der Name für einen Strandvogel, der sich schnell und viel bewegt und nicht mal eben einfangen lässt.
Mehr als eine Spur
Er war ein Theologe und Schriftsteller, Pastor im ehemals preußischen Posen, 1864 geboren und 1924 gestorben, befreundet mit Hugo von Hofmannsthal, Martin Buber und Walter Benjamin, der ihn den "tiefsten Kritiker des Deutschtums seit Nietzsche" nannte. Kein unbedeutender Mann also, fast ein Exot, der dem eigenen Leben eine Prägung geben kann, nach der zu suchen sich Anne Weber zeitreisend aufmacht und dabei viel mehr als nur die Spur des Urgroßvaters ausmacht, der seltsam konturenlos bleibt.
Kühle Distanz
Dieser Weg ist schwer und ermüdend, auch für den Leser, der nach irgendeiner Emotionalität sucht, die es ihm leichter machen würde, der Autorin beim biografischen Schreiben zu folgen. Aber sie bleibt kühl, distanziert, ernsthaft, jedes Wort ist genau durchdacht und geprüft und erst dann niedergeschrieben, denn Wörter verändern sich und mit ihr Bedeutung und Geschichte. Ein kluges Buch, gewiss, aber die Sätze kommen oft schwer daher, und eine mit ihnen verbundene Erkenntnis soll eigentlich nicht sein, denn:
"Nichts ist gefährlicher als das sichere Gefühl, etwas verstanden zu haben".
(Christiane Schwalbe)
Anne Weber *1964 in Offenbach, lebt als Autorin und Übersetzerin in Paris
Anne Weber "Ahnen"
Ein Zeitreisetagebuch
Fischer 2015, 272 Seiten, 19,99 Euro
eBook 17,99 Euro