Thomas Josef Wehlim
Eisenbahnzüge
"Räder müssen rollen für den Sieg" – mit dieser Losung wollte die Deutsche Reichsbahn ihre Transportleistung 1942 am Wendepunkt des Krieges erhöhen. In der Gründerzeitvilla, die Lars Müller von seinem Onkel erbt, rollen winzige Räder einer Modelleisenbahn auf 800 Schienenmetern durchs ganze Haus, mehr als 700 Waggons mit 75 Lokomotiven.
Nur ein Modell
Die Anlage lässt sich nicht anhalten, alle Züge fahren mit kleinen Figürchen nach Auschwitz, nachgebaut als Miniatur auf acht mal acht Metern. Der junge Mann gerät in einen Sog, der ihn in andere Zeiten zieht und sein eigenes Leben vergessen lässt - ein Nachfahre, der vom Schrecken der Geschichte fast um den Verstand gebracht wird.
"Dies ist mein Haus. Ich lebe darin. Ich sterbe darin. So wie all die Figuren in den Waggons meiner Modelleisenbahn. Niemand sieht es. Es wundert mich, wie blass der Tod ist."
Rollende Räder
Wie der millionenfache Tod mit den Wegen der Eisenbahn verknüpft ist, entwickelt dieser Roman in zwei weiteren Handlungssträngen. Friedrich Monnerjahn, Lars Müllers Großonkel, dessen Frau in Kriegszeiten ein Kind erwartet, lässt die Räder rollen und dringt mit einer Eisenbahnerkompanie in Russland ein; ihre Arbeit ebnet den nachfolgenden Transporten den Weg, über Galizien in die Ukraine, auf die Krim, immer weiter östlich.
"Sie stiegen vorsichtig aus dem Zug. Als seien draußen wilde Tiere. Friedrich koordinierte die Reparatur des Gleises. Material aus dem Zug tragen. Schotter aufbringen. Verbogene Schienen abschweißen. Bohlen legen. Neue Schienen anbringen. Vernageln."
Vorposten des Schreckens
Der junge Leutnant nimmt sich eines ukrainischen Jungen an, der das Massaker in seinem Dorf überlebte. Er schützt Vakho auch noch, als der Winter und Partisanenangriffe die Wehrmacht zum Rückzug zwingen und ihm längst klar geworden ist, dass er und seine geliebte Eisenbahn einer Mörderbande dient, weil er Zeuge vieler Kriegsverbrechen wird.
"Es gab keine Schienenstränge mehr in Russland. Nur stählerne Linien ins Nirgendwo, die durch ihrer aller Herzen führten."
Die Eisenbahn wird zum stählernen Drachen im undurchdringlichen Urwald, Vorposten mörderischer Befehlshaber, denen im Mitropa-Speisewagen erlesene Menüs serviert werden, wie Göring, während er seinen Generälen Witze erzählt.
Wege zurück
Thomas Josef Wehlim gibt grausigen Visionen Raum, die die Grenzen zwischen den Zeiten auflösen, und die Schicksale vom Leutnant Friedrich, dem Schienenjungen Vakho oder dem jüdischen Mädchen Eva, das im Zug von Ungarn nach Auschwitz verbracht wird, verschmelzen zu einer einzigen großen Erzählung vom Schmerz. "Es gibt ein Herz hinter dem Herz. Das niemals verheilt."
Eva Weissmanns Name stand auf einer kleinen Figur in der Spielzeugeisenbahn, und ihr sechs Jahre langes Leben wird in der gegenläufigen Bewegung, zurück bis zu ihrer Geburt erzählt – Wehlim spielt mit dem Schlüsselbegriff des Rücklaufs, der bei Dampflokomotiven möglich, bei Flugzeugen gefährlich und in der menschlichen Geschichte unmöglich ist.
Böse Kinder
Der Roman stellt die Frage auch nach den ersten Impulsen Adolf Hitlers und folgt den Resten der Eisenbahnertruppe auf ihrem ebenso gewaltsamen Weg zurück, auf dem sie sich mit den Zügen in die Vernichtungslager kreuzen, bis sie in Birkenau landen:
"Schienenwölfe waren sie nun. Ein riesiger Haken am letzten Waggon riss die Gleise auf. So wurden sie böse Kinder, die ihre Spielzeugbahn wieder kaputt machten. Damit kein Nachbarskind jemals spielen konnte damit."
Dass Völkermord nicht mehr auf Eisenbahnen angewiesen wäre, ist eine bittere Pointe des Buchs.
Tiefes Erschrecken
Wie schon in seinen ersten Romanen "Die Tage des Kalifats" und "Die Legende vom Schatten" kreist der Autor um die Frage nach dem Ursprung von Krieg und Gewalt. Er lässt sich mitreißen, ohne jedoch die genaue sprachliche Gestaltung aus den Augen zu verlieren und, wo es nötig ist, legt er durchaus auch ironischen Abstand ein. Und die Szenen und Bilder, die er entwirft und miteinander verzahnt, sind von der Schönheit tiefen Erschreckens getragen, über das, was im Menschen "lügt, hurt, stiehlt und mordet" (Büchner).
Ein Autor, dessen Bücher - zum Glück - nicht leicht verdaulich sind, der aber umso mehr verdient, gelesen zu werden.
(Lore Kleinert)
Thomas Josef Wehlim *1966 in Witten/Ruhr, deutscher Autor, lebt in Leipzig
Thomas Josef Wehlim "Eisenbahnzüge"
Edition Rugerup 2015, 224 Seiten, 19,90 Euro
Weiterer Buchtipp zu Thomas Josef Wehlim
Legende von Schatten