Kolja Mensing
Die Legenden der Väter
"Die Toten, das sind die Helden, nicht die, die überlebt haben, und schon gar nicht jemand wie Józef". Als polnischer Soldat in britischer Uniform ist er in der nordwestdeutschen Kleinstadt Fürstenau aufgetaucht, dieser Józef Kozlik, und als sein Sohn, Kolja Mensings Vater und Sohn der Tischlertochter Marianne, zwei Jahre alt ist, verschwindet er wieder. Für immer. Fast.
Lügen und Heldentaten
Für seinen Sohn blieb er ein Held, der mitgeholfen hatte, Deutschland zu befreien, doch als der Enkel beginnt, sich auf seine Spur zu setzen, verstrickt er sich in einem "Geflecht aus Kindheitsfantasien, Halbwahrheiten und Lügen", das ihn, Jahrgang 1971, über viele Jahre beschäftigen wird.
Dass der polnische Großvater sein Land verließ, als es die Deutschen 1939 besetzten, stellt sich ebenso als Lüge heraus wie seine Heldentaten während des Krieges, und allmählich entwickeln sich Teile eines anderen, wahrhaftigeren Bildes, das viel mehr über das Zusammenleben von Polen und Deutschen in Oberschlesien zwischen den Kriegen verrät als über den verlorenen Vater und Großvater.
Hinter den Masken
"Der Wehrmachtssoldat Józef Kozlik verschwindet in der Dunkelheit, um Jahre später in den Erzählungen meines Vaters als polnischer Soldat in einer britischen Uniform wieder aufzutauchen. Als ob das ganze Leben nur ein Maskenball sei."
Kolja Mensing versucht, hinter die Masken zu schauen, doch er muss erkennen, und auch davon erzählt sein Buch, wie wenig sich ein schlüssiges Bild des Menschen Józef Kozlik, dem "Lügner, dem man gern glaubte", wiedergewinnen lässt und wie hartnäckig er als Fantasiefigur und Projektion weiter spukt. Er beschreibt diese Suche als eine Geschichte des Scheiterns:
"In einer Zeit, in der ich selbst hätte eine Familie gründen können, war ich einem Gespenst aus der Nachkriegszeit nachgejagt. Ich hatte den Vater gesucht, den mein Vater selbst nicht gehabt hatte",
doch was er dabei dennoch findet, hebt sein Buch aus der Erinnerungsliteratur der Kinder und Enkel hervor.
Zerborstene Vergangenheit
Die Geschichte einer Familie, in der das "Polenkind" von der eigenen Mutter erbarmungslos geprügelt wird und dennoch die Sehnsucht nach dem Heldenvater nie aufgibt, bricht die privaten Mythologien auf. Die Geschichte eines jungen Mannes aus dem deutsch-polnischen Grenzland, der lernt, sich mit allen Mitteln durchzuschlagen, ist ebenso traurig, und beides verstärkt auch bei den Lesern die Resistenz gegenüber Verklärungen aller Art, vor allem denen der Kindheit. Die tausend Splitter, in die die Vergangenheit zerborsten ist, kann weder ein hartnäckiger Enkel noch ein kundiger Historiker mehr passend zusammensetzen – aber sich dem Schmerz zu stellen, den sie noch immer verursachen können, ist lohnend.
Umgang mit Geschichte
Auch die kurze Geschichte der "polnischen Besatzungszone" in Norddeutschland und die der Rückkehrer nach Polen sind immer noch kaum bekannt, und so zeugt die überarbeitete Neuauflage des 2011 im Aufbau Verlag erschienenen Familienromans und zugleich Sachbuchs mit neuem Nachwort von nachhaltigem Umgang mit unserer Geschichte.
(Lore Kleinert)
Kolja Mensing *1971 in Oldenburg, Redakteur für "Deutschlandradio Kultur", lebt in Berlin
Kolja Mensing "Die Legenden der Väter"
Verbrecher Verlag 2015, 288 Seiten, broschiert, 14 Euro
eBook 9,99 Euro