Peter Richter
89/90
"So ging einem das damals dauernd. Ständig waren plötzlich die Mädchen weg." Weil ihr Reiseantrag bzw. der ihrer Eltern genehmigt wurde und sie die DDR verließen. Wohl deshalb erinnert sich Peter Richter vor allem an die Jungs dieser Zeit.
Wachsende Unruhe
16 Jahre alt waren sie damals, mitten in der Pubertät und entsprechend umtriebig. Lieblingstreffpunkt ist das Freibad, auch und vor allem nachts. Die Jungs gehen ins "letzte Wehrlager der DDR in der gesamten Weltgeschichte". Die Wende ist noch nicht in Sicht, aber die Unruhe schon spürbar. Sie schwanken zwischen Protest, Anarchie und Skinheads, irgendwo in einem Raum zwischen links und rechts und dem Gefühl, alles ausprobieren zu müssen und Grenzen zu überschreiten – nicht die realen, sondern die der Konvention.
Westgeld statt Freiheit
Das offizielle Vokabular beginnt sich zu verändern, das "Wohnungsproblem als soziales Problem" soll gelöst werden, die Rede ist von "Übergriffen" und "Machtmissbrauch", "Dialog" und "Mündigkeit", auch von einem neuen Reisegesetz. Die DDR wird 40, Steine fliegen und "keine Gewalt" wird gerufen, in Leipzig finden Friedensgebete statt und irgendwann sind dann auch die echten Grenzen gesprengt und der Erfahrungshorizont ist plötzlich unfassbar groß. Aber auch schwierig, weil nur noch nach Westgeld gerufen wird und nicht mehr nach Freiheit.
Journalistisches Protokoll
Richter führt ein journalistisches Protokoll über Umbruch und Veränderung, es ist eine detaillierte Berichterstattung über "das Gefühl, in großen, bedeutenden Zeiten zu leben" – Anekdoten und Geschichten, die den Stimmungswandel treffend beschreiben, autobiografisch und subjektiv, politisch und kritisch, ironisch, routiniert und gut geschrieben. Auch: gewissenhaft und kühl.
Gewalt und Hass
Und doch liest sich Richters Buch nicht durchgehend fesselnd. Vielleicht sind es die vielen Fußnoten, die zugunsten faktischer Genauigkeit den Lesefluss stören, oder es sind die vielen M. und V. und S. und L., denen die echten Namen und oft auch fühlbare Identitäten fehlen. Die Realität ist umso greifbarer, denn Schwarze und Vietnamesen, "Fidschies" werden vom einem neofaschistischen Mob verfolgt und gejagt, Gewalt und Hass finden bislang verschlossene Ventile. Richter sichert Spuren und Erinnerungen und notiert Veränderungen, die wir allzu schnell vergessen haben:
89/90 "ist das Jahr, in dem ein beträchtlicher Teil Deutschlands sich im Zustand einer echten Anarchie befindet. Mit allen Herrlichkeiten, die so etwas mit sich bringt. Und mit allem Horror. Wer da nicht noch einmal genauer hinschauen will, der interessiert sich auch für seine Gegenwart nicht."
(Christiane Schwalbe)
Peter Richter *1973 in Dresden, Journalist und Schriftsteller, seit 2012 Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York
Peter Richter "89/90"
Roman Luchterhand 2015, 416 Seiten, 19,99 Euro
eBook 15,99 Euro, Hörbuch-Download 12,99 Euro