Lucien Deprijck
Ein letzter Tag Unendlichkeit
"Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht"- Friedrich Gottlieb Klopstocks berühmte Ode an die Freundschaft "Der Zürchersee" gab den Anstoß zu Lucien Deprijcks Roman über eine Bootsfahrt Anfang Juli 1750.
Hintergedanken
Ein außerordentliches Unternehmen, denn sein Versepos "Messias" hatte die gebildeten Honoratioren Zürichs in Aufruhr versetzt, und mit der Bootsfahrt über den See wollen die jüngeren unter ihnen dem geistreichen, vor Lebenslust sprühenden Schriftsteller etwas ganz Besonderes bieten; durchaus mit dem Hintergedanken, Zürich mit ihm als Dauergast zu einem Zentrum der Wissenschaften und Künste zu machen.
Freundschaftskult
In der Enge der strikten Etikette ihrer sittenstrengen Stadt hoffen die jüngeren, selbst
"etwas Besonderes zu erleben. Etwas, was lange nachwirken, von dem man noch lange sprechen würde. Welche Aufregung die ganze Unternehmung noch verursachen mochte, war nur zu ahnen"
– und so sind die Herzdamen der Männer und auch einige andere Frauen mit von der Partie, und die Regeln bestehender Ehen oder Verlobungen sollen an diesem Tag außer Kraft gesetzt sein. Der Freundschaftskult begann in diesen Jahren, und man pflegte die Empfindsamkeit, die Inspiration aus der Natur als Befreiung von den feudalen Klassenschranken und höfisch geprägten Konventionen als etwas noch gänzlich Neues.
Heimlichkeiten
Klopstock, charmanter Mittelpunkt der heimlichen Unternehmung, fühlt sich von der erst 17jährigen Anna Schinz angezogen, und ein heiteres Spiel nimmt seinen Lauf, eingebettet in zwanglose Gespräche und muntere Mahlzeiten, und als die sommerliche Gesellschaft erhitzt und beschwipst schließlich auf einer Halbinsel Rast macht, löst sich die Ordnung allmählich auf. Die schöne Anna hätte sich nie auf das Spiel eingelassen,
"wenn nicht dieser ganze Tag von Anfang an so gewesen wäre wie ein anderes Leben. Als gebe es noch eine andere, zweite Welt. Als ob man in einer Art Traum noch ein weiteres Mal lebe, anders",
und ihre durchaus selbstbewusste Art, mit Klopstock ins Gespräch zu kommen, mündet darin, dass der bewunderte Dichter auf handfeste Verführung der jungen Frau aus ist, jedoch durchaus Angst hat, entdeckt zu werden und gegen die Regeln zu verstoßen.
"Was ist der Mensch doch für ein albernes Geschöpf, dachte Klopstock. Ein Leben lang denkend, blind handelnd und strebend, immerzu strebend, begrenzt, eingeschränkt, gepeinigt von niederen Bedürfnissen, die der Entwicklung zu Höherem immerzu im Wege stehen."
Dunkle Untertöne
Deprijck beschreibt sehr schön, wo auch für den berühmten Gast der Fähigkeit, sich anrühren zu lassen und allen Empfindungen überreichen Raum zu geben, Grenzen gesetzt sind. Die zauberhafte Stimmung, die sich im Laufe des Tages und vor allem bei einbrechender Nacht steigert und auflädt, berührt alle Mitreisenden der Lustfahrt, weil sie so sehr im Gegensatz zum Alltagsleben ihrer Zeit steht. Der junge Arzt Hirzel, der die Fahrt organisiert und im kommenden Jahr Stadtarzt werden wird, sinniert, "dass wir unsere Jugend zu Grabe getragen haben, noch ehe sie überhaupt recht Blüten zu treiben kam" – eine leise Melancholie, die dem sommerlichen Amusement einen dunkleren Unterton verleiht.
Anstandsdame
Sogar Madame Muralt, mit ihren 51 Jahren als fast schon großmütterliche Anstandsdame mitgenommen, kann sich verlockenden Gedankenspielen nicht entziehen, wie es hätte sein können, wäre sie jünger und bereit, etwas von dem Glanz eines göttlichen Dichters auf durchaus handfeste Weise auf sich zu ziehen. All diese Menschen lebten tatsächlich in Zürich, in dieser Epoche vor der Goethezeit, und sie in diesem heiteren, gut komponierten Sittenbild kennenzulernen und für einen (un)endlichen Tag zu begleiten, lässt Dichtung und Wahrheit auf sehr anregende Weise verschwimmen.
(Lore Kleinert)
Lucien Deprijck * 1960 in Belgien, Journalist, Autor und Übersetzer lebt in Köln
Lucien Deprijck "Ein letzter Tag Unendlichkeit"
Unionsverlag 2015, 240 Seitn, 19,95 Euro
Der Unionsverlag hat Dokumente zum Buch auf seine Homepage gestellt.
Den Brief Klopstocks über die Fahrt auf dem Zürcher See finden Sie hier beim:
Unionsverlag