Annett Gröschner
Schwebende Lasten
„Bei Rose und Walter hatte sie gelernt: Der gelungene Strauß ist einfach gehalten, in der Gestaltung wie in der Fertigung. Auf die innere Ordnung ist zu achten. Aber was sie gelernt hatte, vergaß sie im Leben oft genug und mit Absicht.“
Blumensprache
Bei der Halbschwester Rose musste Hanna einiges lernen, bevor sie selbst einen Blumenladen aufmachen konnte, und ihre Sträußchen waren unkonventionell und so schön, dass sie den angetrunkenen Männern am Abend für ihre Gelegenheitsbekannten ebenso wie zur Versöhnung der Ehefrauen dienten. Auf die Frage eines unbekannten Besuchers ihres Ladens, woher sie ihre Anregungen bekomme, erklärte Hanna, dass sie sich das selbst ausdenke:
„Ich schaue eine Weile alle Blumen an, bis sie anfangen, miteinander zu reden, und je nachdem, was sie sich zu sagen haben, stelle ich sie je nach Anlass zusammen.“
Ein einziges Mal geht sie in ein Museum in ihrer Stadt Magdeburg und bildet auf Wunsch des Mannes den Strauß auf dem Stilleben „Blumenvase“ von Ambrosius Bosschaert aus dem 17. Jahrhundert nach. Im Krieg wurden Museum und Gemälde zerstört, und Hannas Laden auch, nachdem die Nazis sie zwangen, ein Schild, dass Juden unerwünscht seien, ins Schaufenster zu stellen. Dem Mann begegnete sie nie wieder, vergaß die ungewöhnliche und gut bezahlte Bitte jedoch nie, bis sie in Den Haag als sehr alte Frau mit ihrer Tochter ein Blumenbild des niederländischen Malers wiedersieht.
Geld verspielt
Annett Gröschner erzählt Hannas Leben lakonisch und mit nüchternem Blick auf die harten Seiten: ihre Ehe mit Karl, der ihr Geld oft verspielte, bei Kriegsbeginn inhaftiert wurde und nicht immer treu war, die sechs Kinder, von denen zwei nicht überlebten, die harte Arbeit, schließlich die Zerstörung der Stadt, ihres Ladens und der Wohnung. Hautnah lässt die Autorin Magdeburgs Untergang im Bombenhagel miterleben, ganz nah bei Hanna, deren Sicht auf die politischen Verhältnisse im Nazideutschland zwar nicht sehr weit reicht, aber der Propaganda widersteht: „Das war noch nicht alles, dachte Hanna in der Notunterkunft, da kommt noch mehr, und sie sollte recht behalten. Das war erst der Anfang.“ Und sie bleibt anständig, widersteht der äußeren Ordnung mit klarem Blick.
Nach dem Ende des Kriegs betrachtet sie die Reste der Stadt, das Ausmaß der Zerstörung, und in den Jahren der Evakuierung lernt sie das Landleben hassen, „die Felder und die Nutzgärten, in denen keine Blumen wuchsen, nur Kartoffeln, Mohrrüben und Kohl“. Das nackte Überleben reicht dieser Frau, die die Blumen liebt, nicht aus, und Annett Gröschner zeichnet mit großer Zartheit und Sorgfalt ihre Sehnsucht und die Phantasie, die trotz aller Begrenzungen immer wieder kleine Auswege schafft. Nachdem sie sich Anfang der fünfziger Jahre im Thälmannwerk als Kranfahrerin ausbilden ließ, bepflanzt sie einen ein Meter breiten Streifen an der Querseite der Panzerhalle des Stahlwerks mit Blumen. Erst heimlich, dann eingebunden in den Plan der Brigade „Kultur und Soziales“, und als sie nach 20 Jahren endgültig vom Kran steigt, legt sie im Schatten der Genossenschaftswohnungen wieder einen kleinen Garten an und staunt über seine Schönheit. Am Ende hilft sie im Laden einer Vietnamesin beim Sträuße Binden, und in ihrer Wohnung bleiben am Ende 237 Sträuße zurück. Dazwischen das Leben und der Tod, die Arbeit, die Kinder, die Trauer: Hannas vierte Tochter Kristina kam in kleine anatomische Lehrsammlung, in Formalin, da sie tot geboren wurde.
„Sie schwamm in hockender Haltung, die Augen geschlossen, die rechte Hand an der Wange. Sie hatte etwas Abweisendes, als käme sie ohne den Rest der Menschheit klar, als wollte sie Abstand zwischen sich und der Welt schaffen. Die um den Hals geschlungene Nabelschnur sah aus wie ein modisches Accessoire, das sie mit Grandezza trug.“
Heimliche Höhenflüge
Annett Gröschners Sprache erfasst nicht nur den Alltag im Leben ihrer Protagonistin, sondern auch die phantasievollen Seitenblicke, die Poesie, die heimlichen Höhenflüge, den unendlichen Schmerz. Die Blumenfrau und Kranfahrerin Hanna trauert ihr Leben lang um ihre tote Tochter, wie auch um den aufsässigen Sohn, den sie im Chaos des Bombenkriegs nicht aus einer Feuerwand retten konnte und nicht einmal seinen Körper fand. In ihrem Leben in der DDR weigert sie sich hartnäckig, als ‚Siegerin der Geschichte‘ betrachtet zu werden, man solle sich lieber mit Pflanzen beschäftigen. „Diese Zeit war nicht schön, zu eckig, zu viel Beton, aber sie war friedlich.“ Als ihr Mann später seine Stimme an den Krebs verlor, pflegte sie ihn bis zuletzt und flocht ihm einen Kranz aus Männertreu.
Früh schon überträgt Hanna das Bild der Pflanzen auf die Menschen.
„Da gab es Knospen und kleine Blüten, das abgebrochene Kind und das Kind, aus dem nichts geworden war. Damit meinte sie das Kind in den Männern, die sie auf der Arbeit umgaben. Unter den Frauen gab es die schnell Verblühten und die Rosen, die Königin der Nacht und die Wegwarte. Männer unterschied Hanna nach Unkraut und Nutzpflanzen.“
Durch den Roman begleitet Annett Gröschner ihre Heldin mit dem Motiv der Blumen im Stillleben des niederländischen Meisters. In Hannas Buch notiert sie ihre Eigenschaften und auch die einiger Tiere. Das bietet vor jedem der 25 Kapitel eine leise, poetische Einstimmung auf ein Leben mit „zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, einen Aufstand, zwei Weltkriege(n) und zwei Niederlagen“. Ein grandioser und ergreifender Roman.
(Lore Kleinert)
Annett Gröschner, *1964 in Magdeburg, vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin, lebt seit 1983 in Berlin
Annett Gröschner „Schwebende Lasten“
Roman, Verlag C.H.Beck 2025, 282 Seiten, 26 Euro