Kristine Bilkau
Halbinsel
Diese Halbinsel liegt in Nordfriesland, Husum ist nicht weit entfernt, das Wattenmeer gleich nebenan. Hier lebt Annett in einem kleinen Siedlungshaus aus den 1950er Jahren - allein. Sie ist Ende 40, arbeitet als Bibliothekarin und hat sich mit dem Alleinsein ausgesöhnt. Ihr Mann ist vor vielen Jahren völlig unerwartet gestorben, da war die gemeinsame Tochter Linn noch ein Kind.
Erschöpfung
Inzwischen ist Linn Mitte zwanzig und längst aus dem Haus, hat Umwelttechnik studiert, in Rumänien und Schweden in entsprechenden Projekten gearbeitet und einen gut bezahlten Job in Berlin gefunden. Alles in Ordnung also - bis die Mutter einen Anruf bekommt: Linn ist bei einem Vortrag zusammengebrochen – Kreislaufkollaps, Erschöpfung. Annett holt sie zu sich nach Hause, hält sich zurück mit Fragen, will nicht aufdringlich sein. Bis die Tochter ihr verkündet: „Ich geh nicht zurück nach Berlin ... ich habe den Job gekündigt." Die Mutter ist schockiert:
„Natürlich hätte ich am liebsten sofort erfahren, was sie an ihrer Arbeit dermaßen enttäuscht hatte, dass sie nun hier saß und gar nichts mehr wollte .. Warum ließ sie sich so hängen, warum ging sie nicht früher schlafen, warum suchte sie sich nicht in Ruhe eine andere Arbeit in Berlin, die ihr mehr entsprach?"
Als sie dann beschließt, stundenweise in der Bäckerei im Ort zu arbeiten, versteht Annett gar nichts mehr. Sie kann sich die Bemerkung nicht verkneifen, dass Linn dafür deutlich überqualifiziert ist. Dabei hat sie ein offensichtlich funktionierendes, alternatives Lebensmodell vor Augen: Im Haus nebenan ist gerade eine Wohngemeinschaft eingezogen, die davon lebt, Haushalte aufzulösen und ansonsten Haus und Garten auf- und ausbaut. Die drei wirken entspannt und zufrieden, führen offensichtlich ein Leben ohne Stress und Druck von außen.
Fürsorge
Linn braucht eine Pause, Ratschläge sucht sie nicht. Zwischen Mutter und Tochter beginnt eine komplizierte Zeit, in der Linn zunächst wortkarg bleibt. Für Annett tauchen umso mehr Fragen auf, denn ihr Rollenmuster ist Fürsorge, und Linns Verhalten stößt sie in totale Unsicherheit:
„Was für eine Mutter bist du jetzt? Eine, die mitfühlend und fürsorglich die passenden Worte findet? Eine, die sich zuviel Sorgen macht und ihrem Kind damit auf die Nerven fällt? ... Sei authentisch. Authentisch, ein Wort, das ich immer häufiger hörte, doch mit dem ich nicht viel anfangen konnte."
Ihre Tochter hat genau deshalb gekündigt – sie will authentisch bleiben, meint: Auch im Beruf ökologisch verantwortlich handeln und nicht zur allgemeinen Gewinnmaximierung durch Emissionshandel und Greenwashing einer Holding beitragen, die sich mit Aufforstungsprojekten als wohltätig ausgibt.
Authentisch bleiben
Kristine Bilkau beschreibt den Prozeß von Distanz und langsamer Annäherung subtil und genau, geht dabei sanft und liebevoll mit ihren Figuren um, die beide auf der Suche nach einem neuen Blick auf sich selbst und aufeinander sind, sich in ihren Erinnerungen an Vater und Ehemann treffen, den Annett in Gedanken immer wieder fragt, wie er wohl gehandelt hätte.
Nach und nach erfährt sie, was Linn zur Kündigung bewogen hat, und warum ihr das eigene Gewissen wichtiger war, als ein gutes Gehalt. Sie beginnt zu verstehen - und sieht wieder die alte Wohnung in Kiel vor sich,
„... die vielen Stufen hoch zu unserer Wohnung, und Linn, die sich weigert, an die Hand oder auf den Arm genommen zu werden. Sie ist anderthalb Jahre alt und verteidigt mit allem, was ihr zur Verfügung steht, ihre Autonomie."
Um die sie auch jetzt wieder kämpft.
Ein stiller und eindrücklicher Roman über das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, Abhängigkeit und Autonomie und über die Bedeutung von Erinnerungen. Auch über die Ziele einer Elterngeneration, die angesichts der Klimakrise nicht mehr haltbar sind. Kristine Bilkau schärft den Blick für die veränderten Ansprüche der Generation der Kinder an Leben und Beruf angesichts einer Welt, die es zu behüten gilt.
(Christiane Schwalbe)
Kristine Bilkau, *1974 in Hamburg, Studium Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans, mehrfach ausgezeichnete Autorin, lebt in Hamburg. In der Jurybegründung für die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse heißt es u.a.: "Halbinsel ist ein sensibel gebauter Roman über emotionale Altlasten, über Großzügigkeit und über das Geschäft mit dem Klima-Gewissen."
Kristine Bilkau "Halbinsel"
Roman, Luchterhand 2025, 224 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro