Arno Geiger
Unter der Drachenwand
"Was kann es Besseres geben als am Leben zu bleiben?"
Seit mehr als fünf Jahren ist der junge Wiener Veit Kolbe Soldat, kämpft an der Ostfront, bis er verwundet wird und damit eine Unterbrechung des Kriegsirrsinns gewährt bekommt – bis er wieder kriegstauglich ist. Am Neujahrstag 1944 trifft er im kleinen Ort am Mondsee ein, unterhalb der Drachenwand, wo ihm sein Onkel ein Quartier verschafft und er zum ersten Mal seit der Schulzeit zur Ruhe kommt.
Scheinbare Normalität
"Das unbeschreibliche, mit nichts zu vergleichende Gefühl, das man empfindet, wenn man überlebt hat. Als Kind der Gedanke: Wenn ich groß bin. Heute der Gedanke: Wenn ich es überlebe."
Was aber nach dem bloßen Überleben bleibt, wie sehr der Krieg Besitz von all diesen jungen Soldaten ergriffen hat und wie das Leben wieder Fuß zu fassen vermag, entwickelt Arno Geiger in meisterlicher Weise. Die kleinen, alltäglichen Dinge bieten Veit Kolbe Halt - einen Ofen zu reparieren, einem Gärtner zu helfen, dem 'Brasilianer', der aus seiner Wahlheimat wieder zurückkehren musste, mit Frauen ins Gespräch zu kommen - all das verästelt sich langsam zu einem Anschein von Normalität, unter der "breiten Stirn der Drachenwand":
"Wie weit die Verzerrung des eigenen Wesens schon vorangeschritten ist, merkt man erst, wenn man wieder unter normale Menschen kommt."
Doch während die Beinwunde langsam heilt, erfassen jäh ausbrechende Angstzustände den jungen Mann wie Stürme, die ihn durchschütteln. Die Gräueltaten hinter der Front haben sich tief in die Seelen der beteiligten Männer gegraben, und Veit ist jung genug, um sich in seiner Atempause am Mondsee dem, was man heute 'posttraumatische Belastungsstörung' nennen würde, zu stellen, anstatt es zu verdrängen und zu leugnen wie so viele nach dem Krieg.
"Wenn ich ehrlich war, hatte der Onkel recht, es war auch mein Krieg, ich hatte an diesem verbrecherischen Krieg mitgewirkt, und was immer ich später tun und sagen mochte, es steckte in diesem Krieg auf immer mein Teil, etwas von mir gehörte auf immer dazu, und etwas vom Krieg gehörte auf immer zu mir, ich konnte es nicht mehr ändern."
Liebe und Hoffnung
Die Liebesgeschichte mit Margot, einer jungen Frau aus Darmstadt, die mit ihrem Säugling Schutz vor dem Bombenkrieg in den Städten sucht, gibt ihm Halt und Hoffnung. Das Interesse an anderen Menschen wächst, an dem Mädchen Nanni etwa, das mit fünfunddreißig Schülerinnen und seiner Lehrerin im Lager Schwarzindien evakuiert wurde und in den Osterferien spurlos verschwindet. Dennoch bleibt die Bedrohung durch neuerliche Einberufung und Denunziation, denn auch die Dorfgemeinschaft ist totalitär geprägt bis in die Sprache:
"Alles bröckelte, rollte brockenweise in verschiedene Richtungen, das galt auch für die Sprache. Wörter wie Versprechen und Treue waren hohl geworden und zerbrachen, wenn ich sie in den Mund nahm."
Kaum noch Leben
Geiger verknüpft Veits Selbsterkundung über sein Bemühen, wieder zu sich selbst zu finden, mit sehnsuchtsvollen Briefen von Nannis Freund Kurt, der erst später von ihrem Verschwinden erfährt und ebenfalls noch in den Krieg ziehen muss. Ebenso dringt der Bombenkrieg mit den Briefen der Mutter Margots aus dem zerstörten Darmstadt in den Fluchtpunkt am Mondsee ein, und schließlich wird man auch Zeuge der verzweifelten Flucht des jüdischen Zahntechnikers Oskar Meyer aus Wien, der mit Frau und jüngerem Sohn in Budapest landet. Als die Deutschen in Ungarn einmarschieren, wird jede Hoffnung auf Rettung zunichte, und seine Schilderung mündet in eine herzzerreißende Klage:
"Lieber Gott, hol mich heim in der Nacht, und keiner weiß davon. Ruhe, Ruhe, das, was ich brauche, finde ich sowieso nicht. Wer sagt mir noch, dass er mich liebt. Niemand…Bis zur Unerträglichkeit lebe ich in einer steifen, sich nicht bewegenden Einsamkeit, ich bin allein in einer aussichtslosen Lage, ich lebe kaum. Ganz wenig nur."
Weltuntergang
Durch diese ungewöhnliche Anordnung der Erfahrungsräume unterschiedlicher Menschen entsteht das Bild eines Weltuntergangs, zu dem der Krieg den Taktstock schwingt, und in dem zugleich die seelischen Überlebensmöglichkeiten des Einzelnen ausgelotet werden. Der Schriftsteller hat dokumentarisches Material wie Briefe von Zeitgenossen kunstvoll in diese Räume eingewebt, vergleichbar zum Beispiel mit der Arbeitsweise Walter Kempowskis, aber so stilsicher verklammert, dass sie im Strom des Erzählens aufgehen und für jede einzelne Schilderung ein eigener, stimmiger Ton entsteht. Geigers Roman erfasst diese Ambivalenz in einer Sprache, die Schicht um Schicht zu dem vordringt, was die Antriebskräfte des Menschlichen ausmachen.
(Lore Kleinert)
Arno Geiger, *1968 in Bregenz/Bodensee, österreichischer Schriftsteller, lebt in Wien
Arno Geiger "Unter der Drachenwand"
Roman, Hanser Verlag 2018, 480 Seiten, 26 Euro
eBook 19,99 Euro, AudioBook 23,95 Euro
Longlist Deutscher Buchpreis 2018