Gert Loschütz
Ein schönes Paar
"Ja, so könnte es gewesen sein. Wie Wölfe über die Stadt hinweg. Wie geht es dir, Liebster? Gut. Und dir? Was macht deine Schulter? Es wird besser. Und dein Bein? Schon verheilt."
So könnte es gewesen sein, so war es nicht. Wie es gewesen sein könnte, erfahren wir aus der Perspektive des Sohnes von Herta und Georg, nachdem beide kurz hintereinander gestorben sind.
Der Kleinstadt entfliehen
Beim Ausräumen stößt der Fotograf Philipp auf eine Kamera, die mit der Geschichte seiner Eltern verknüpft ist. Vor der Flucht aus der DDR hatte die Mutter sie eingetauscht, und später will der Vater sie verkaufen, um ausgeborgtes Geld in den Tresor seines Chefs zurückzulegen, aber da war er bereits wegen Unterschlagung verhaftet worden. Doch das wertvolle Gerät ist nur Anstoß, ins Leben der Eltern zurückzustreifen, mal tastend und beiläufig, dann wieder auf der Spur des Schmerzes des Kindes, denn Herta und Georg haben sich nach der Flucht aus Brandenburg in die Schieferstadt Tautenburg zwischen Westerwald und Rothaargebirge weit voneinander entfernt.
Neuanfang im Westen
Gert Loschütz lässt den Sohn den Raum zwischen beiden vermessen, zunächst die Nähe und Liebe, als sie sich noch vor dem Krieg kennenlernten und die schöne Herta im Bekleidungsgeschäft von einem Leben als Mannequin träumte und der Kleinstadt entfliehen wollte:
"Es war eine doppelte Sehnsucht, die sie empfand, die nach ihm und eine, die auch ohne ihn vorhanden war, der sie aber der Einfachheit halber seinen Namen gab: Georg."
Sie war es dann auch, die später, in der DDR, darauf drängte, im Westen einen Neuanfang zu machen. Wie sein Fotograf richtet der Schriftsteller Loschütz seinen Blick auf Episoden, deren Details oft erst später ihre Bedeutung verraten, und die Bilder, die er entstehen lässt, entwickeln einen ganz eigenen, unverwechselbaren Rhythmus: Mal fokussiert auf das, was dem Jungen Philipp als bedeutsam in Erinnerung blieb, dann wieder beschleunigt durch die Überlegungen des Erwachsenen, der die Trennung seiner Eltern nachzuvollziehen sucht.
Spurensammlung
Zehn Monate nach Ankunft in der Kleinstadt verlässt Herta Sohn und Mann, schickt immer mal wieder Postkarten ohne Absender und kehrt nach fast dreißig Jahren nach Tautenburg zurück. Was wurde aus ihrer Sehnsucht, aus der Liebe? Behutsam sammelt ihr Sohn Spuren, bewegt sich in der Zeit wie in bekannten und unbekannten Räumen, die er nicht stringent erkundet, sondern assoziativ betrachtet, wohl wissend, wie trügerisch die Erinnerung sein kann und wie sehr sie die Bilder der Erfahrung immer wieder neu überschreibt. Als die Mutter verschwindet, beginnt für den Vater eine Phase des Unglücks, die Zeit der Verletzungen und der Unsichtbarkeit:
"Zeit sage ich, in Ermangelung eines besseren Worts, meine aber nicht die verstreichende Zeit, nicht die in Tagen und Wochen messbare, sondern die Häufung von Missgeschicken, die sich in der Erinnerung wie ein eigener Lebensabschnitt ausnimmt, in dem nur hin und wieder kleine Pausen eintraten…."
Der Sohn ahnt, wie nah Georg daran war aufzugeben, obwohl er, dank Herta, vom Vorwurf des Diebstahls entlastet wurde. Später wird er als Fotoreporter das Gefängnis besuchen, weil er den Ort sehen wollte, wo sein Vater festgehalten wurde. Dass Georg jedoch weder ein zu allem entschlossener Mann noch ein in sich gekehrter, Schutz suchender ist, erschließt sich dem Sohn ganz allmählich. Als er, noch als Junge, im zweiten Jahr nach Hertas Verschwinden seinen Vater im Büro besucht, scheinen alle Frauen vom Wunsch beseelt zu sein, Georg zu gefallen:
"Das Irritierende aber war, dass ich diesen Blick nicht nur bei einer bemerkte, sondern bei mehreren, sodass sich die Linien, die ich mir zu sehen angewöhnt hatte, kreuzten, und nach einer Weile hatte ich das Gefühl, dass die Stadt von Blicken, wie von straff gespannten Drähten, durchzogen war."
Elegie der Sehnsucht
Loschütz, dessen Roman autobiografisch grundiert ist - er kam selbst 1957 mit seinen Eltern aus der DDR in die Kleinstadt Dillenburg - belässt Georg und Herta ihre Geheimnisse, tritt ihnen nicht zu nahe, nur gerade so viel, dass sich die Bruchstücke ihrer Geschichte zu einer Elegie der Sehnsucht und Vergeblichkeit aufladen, die einen großen Sog entwickelt. Nicht nur ist die Konstruktion dieses Romans kunstvoll und elegant, auch die Sprache Loschütz‘ arbeitet sich ungewöhnlich und genau durch die Schichtungen des Erinnerten, indem der Autor anders als ein Maler in Pentimento-Manier die früheren Bilder nicht übermalt, sondern freizulegen sucht, bis sich eine neue, veränderte Collage zeigt – und wieder verändert.
"Wie Wölfe über die Stadt hinweg" haben sich Herta und Georg am Ende ihres Lebens, 29 Jahre nach ihrem Abschied, noch einmal in den Blick genommen, jeder auf seinem Berg, und alles ausgeblendet, die Kleinstadtwelt mit ihren "roten Edelpilzgesichtern" und der "kumpelhaften Geselligkeit", die Träume, die Vergänglichkeit. So könnte es gewesen sein. War es so? Welche Fragen sie noch aneinander hatten, ist Sache des Dichters und Schriftstellers Gert Loschütz.
(Lore Kleinert)
Gert Loschütz, *1946 in Genthin/Sachsen-Anhalt, Autor von Erzählungen, Romanen, Gedichten, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern, lebt in Berlin
Gert Loschütz "Ein schönes Paar"
Roman, Schöffling & Co Frankfurt/Main 2018, 236 Seiten, 22 Euro
eBook 17,99 Euro