Bov Bjerg
Serpentinen
Vater und Sohn sind unterwegs. Sie machen eine Reise in die Heimat des Vaters, in ein Dorf auf der Schwäbischen Alb, in die Provinz. Eine Reise, die zugleich Spurensuche und Traumaverarbeitung sein will.
Versteinerungen
Der Sohn liebt Versteinerungen, sie finden sie im Museum. Der Vater trägt sie buchstäblich in sich, als Familienschicksal, das ihn treibt, in tiefe Depression stürzt - Selbstmorde, ein lebenslanges Trauma:
“Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Pioniere. Ich war noch am Leben. ... Diese Scheißwut der Scheißväter. Gegen sich, gegen alle. Die Kinder mussten für die Kindheit ihrer Väter büßen. Ich war auch nur ein Scheißvater.”
Er hat Angst um seinen Sohn, der seine Wutanfälle zu ertragen lernt. Und auch als Leser hat man Angst um den Jungen. Denn in väterlichen Schreckensvisionen passieren, scheinbar real, unvorhersehbare Dinge. Immer wieder muss deshalb ein Bier her, und noch eins, und noch eins, um die Depression zu ertränken und die Ursachen der Wut zu bekämpfen, die ihn sein Leben lang verfolgt:
“Der Vater war ein Nazi, bis zu seinem Ende. Keiner von denen, die den Massenmord abstritten. Er war ein richtiger Nazi. Einer, der den Mord gut fand."
Er war auch ein Säufer, der unkontrolliert zuschlug. Nazis, Suff und Selbstmord – der Ich-Erzähler dreht sich im Kreis:
“M.sagte: Du mit deinen Nazis. Du siehst überall Nazis! Ich sagte: Nazis SIND überall!”
Weggedacht und weggegrübelt
“Von mir aus musst du nicht auf die Oberschule”, sagte die Mutter, als er sich eine Rechenaufgabe wieder und wieder nicht merken kann. Aber er, das Arbeiterkind, tut es nun gerade: “Ich war gut. Ich war der Beste. ... Doch ich war nicht gut genug.”
Er wird erfolgreicher Soziologie-Professor, bekommt Preise, Anerkennung. Dazugehörig fühlt er sich nie. Seine inneren Konflikte haben sich mit Ehe und Geburt des Sohnes nicht verändert, die Erinnerungen an die Gewalt der Väter, die ihre Wut an Kindern und Müttern abreagierten, holen ihn immer wieder ein. Auch die Schuldgefühle, als Sohn und später als Vater versagt zu haben. Und wenn sich sein Sohn angstvoll zwischen ihn und seine Frau stellt, damit sie aufhören, sich anzubrüllen, dann ist das seine eigene Angst. Die Polizei ist längst auch in diese Familie gekommen, um nach dem Rechten zu sehen.
Mit seiner Reise will er sich befreien vom Familienschicksal, das als Fluch über ihm hängt. Es ist eine reale Reise - in Serpentinen durch die Schwäbische Alb, manchmal durchaus entspannt und liebevoll im Umgang mit seinem Sohn, der diese Zeit mit dem Vater genießt – und eine seelische, zurück in all die Abgründe und Kurven, in die er sich legen musste, um zu überleben:
“Ich hatte alles immer mit mir selbst abgemacht. Weggedacht und weggegrübelt. Ich musste nicht herumlabern.”
Reise gegen den Fluch
Bov Bjerg hat ein verstörendes Buch geschrieben, zugleich anrührend und beklemmend genau in der Auslotung seelischer Qualen, die aus der Kindheit bis ins Erwachsenenalter reichen - offenbar schicksalhaft, nicht veränderbar, ein Leben lang bedrohlich. Er mutet seinen Lesern auch stilistisch Neues zu, springt in den Erinnerungen hin und her, oft in sehr kurzen, prägnanten Texten, wie Gedankensplitter. Er vergleicht Begegnungen aus der Gegenwart mit Erfahrungen aus der Vergangenheit, überschreibt das verhasste “Familienbla” mit Interpretationen der Vertriebenengeschichte der Großeltern, wechselt zwischen Assoziationen, Gedankenspielen und realer Erfahrung und verknüpft dies alles zu einem bedrohlichen Netz psychischer und physischer Zwänge, in dem man sich noch mehr verfängt, je heftiger man sich herauszuwinden versucht:
“Depression war keine Diagnose. ... Wenn ich das Wort aussprach, verwandelte ich das Gefühl in ein Urteil. Erst die Vollstreckung des Urteils würde dem Gefühl ein Ende machen. Die Kapitulation vor dem Schwarzen Gott.”
(Christiane Schwalbe)
Bov Bjerg, *1965 in Heinigen/Baden-Württemberg, deutscher Schriftsteller und Kabarettist, lebt in Berlin
Bov Bjerg "Serpentinen"
Claassen Verlag 2020, 272 Seiten, 20 Euro
eBook 17,99 Euro, AudioCD 9,90 Euro