Franz Hohler
Gleis 4
Isabelle ist auf dem Weg nach Italien, wo sie nach überstandener Gallenoperation Urlaub machen will. Gerade genesen, ist sie froh, dass ihr ein älterer Herr anbietet, am Bahnhof den Koffer die Treppe hinauf zu tragen. Oben angekommen stellt er das Gepäckstück ab, sackt in sich zusammen und ist tot.
Außergewöhnlicher Todesfall
"Bitte …" kann er gerade noch sagen. Isabelle, Abteilungsleiterin in der Pflegeabteilung eines Altersheims, leistet noch Erste Hilfe – vergeblich. Ein AGT, sagt die Polizei, ein außergewöhnlicher Todesfall. Sie fühlt sich schuldig, vielleicht hat die Anstrengung ihm den letzten Rest gegeben?
Krimi und Familengeschichte
Isabelle lässt ihren Flug sausen und fährt nach Hause, im Gepäck das Handy des Unbekannten und eine kleine Mappe, die er bei sich trug. Nun beginnt eine außergewöhnliche Geschichte, eine Art Krimi, aber auch ein Familienroman und eine kritische Abrechnung mit Schweizer Bürokratie und vergangener Sozialgeschichte.
Drei Frauen und ein Toter
Isabelle bekommt immer wieder Anrufe auf dem Handy des Toten. Der Anrufer hängt auf, wenn sie dran geht. Ihre 22jährige Tochter Sarah beginnt sich Sorgen zu machen und mischt sich ein. Ihr Vater ist Afrikaner und abgehauen. Die Dritte im sympathischen Frauenbund ist die Witwe des Verstorbenen, sie kommt aus Kanada angereist, um die Urne ihres Mannes zu holen.
Lähmender Bürokratismus
Hohler beschreibt die mühselige und akribische Spurensuche, in deren Verlauf die drei Frauen von einer Überraschung in die andere stolpern, lähmenden Schweizer Bürokratismus erleben und Dokumente finden, in denen klar wird: Der Verstorbene war ein sogenanntes Verdingskind, unehelich geboren, der ledigen Mutter weggenommen und für ein minimales Kostgeld in eine Pflegefamilie gegeben, wo er Schlimmes über sich ergehen lassen musste.
Voodoo-Zauber
Stück für Stück decken die drei Frauen die Vergangenheit des Toten auf, der in jungen Jahren nach Kanada auswanderte, sich dort eine neue Identität aufbaute und alle Verbindungen abbrach. Nur eine alte Tante weiß von seinem Schicksal. Sie erliegt fast einem Voodoo-Zauber – wäre da nicht die mutige Sarah.
Tragische Geschichte
Eine tragische (Kindheits)Geschichte, hintergründig, düster, trostlos, voller kritischer Seitenhiebe auf alltäglichen Fremdenhass, bürgerliche Verlogenheit und Spießigkeit, mit einem makabren Schluss - spannend bis zur letzten Seite.
(Christiane Schwalbe)
Franz Hohler *1943 in Biel/Schweiz, vielfach ausgezeichneter Schriftsteller, lebt in Zürich
Franz Hohler "Gleis 4"
Luchterhand Literaturverlag 2013, 220 Seiten, 17.99 Euro
eBook 13,99 Euro