Peter Stamm
Nacht ist der Tag
Das Gesicht verlieren – nur eine Redensart, aber für Gillian, eine bekannte Fernsehmoderatorin, wird sie bittere Realität: Nach einem Unfall wacht sie mit zerstörtem Gesicht im Krankenhaus auf, ihr Mann Matthias hat nicht überlebt.
Blick in den Spiegel
Von einer Minute zur anderen kehrt sich das Leben um, steht alles in Frage, was bisher sicher und überschaubar war. Schönheit, Erfolg und Glück sind dahin und alles nur, weil die beiden nach einem Streit zu viel getrunken und trotz Aufforderung nicht bei der Freundin übernachtet haben. Ein tragischer Schicksalsschlag. Gillian, Ende 30, kann es noch gar nicht richtig begreifen. Der Blick in den Spiegel liefert brutale Aufklärung.
Wie betäubt
Ihr Gesicht ist ihr Kapital. Die plastische Chirurgie wird helfen, sagen die Ärzte, die hat große Fortschritte gemacht, in einem halben Jahr wird kaum noch etwas zu sehen sein - mit schönen Worten versuchen die Ärzte, ihr über den Schock hinweg zu helfen. Aber Gillian bleibt merkwürdig starr, wie betäubt zieht sie sich in sich selbst zurück. Sie erkennt ihre Lebenskrise. Freunde bleiben fern, auch die Mutter. Nur der Vater kommt gelegentlich zu Besuch. Er ist erschüttert, hilflos.
Schöner Schein
Gillan zeigt sich nicht, lenkt ihren Blick in die eigene Vergangenheit und entdeckt Schritt für Schritt die Maskerade ihres Lebens, die als junge, nicht besonders begabte Schauspielerin begann:
"Erst nachdem sie in den Journalismus eingestiegen war, war sie sicherer geworden. Sie bekam den Moderationsjob und spielte die schöne und erfolgreiche Kulturjournalistin für die Zuschauer, für die Medien, für Matthias und sich selbst. Sie machte keine groben Fehler, Matthias spielte mit, im Grunde war er der bessere Schauspieler als sie …"
Identitätskrise
Ihr Leben war "eine einzige Inszenierung", das sie in Illustriertenbildern und Familienalben betrachtet. Sie weiß: Dahin wird sie nicht mehr zurückkehren. Eine alte Begegnung mit dem Maler Hubert rückt stattdessen wieder ins Blickfeld, zu dem sie eine seltsame, fast zwanghafte Anziehung entwickelt hatte. Ihr Mann entdeckt zweideutige Fotos, seine Eifersucht treibt die beiden in jenen dramatischen Unfall nach der Silvesterparty.
Gillian wird schließlich Jill, findet einen Job als Unterhaltungsmanagerin in einem Wellness-Hotel, trifft den Maler wieder, bleibt aber auf Distanz und weiß eines Tages, wohin ihr Weg führen wird.
Mit kühler Genauigkeit
Der Unfall, das verpfuschte Leben, die Innenschau, das Schicki-Micki-Bürgertum, Rückblenden, die Gegenwart – Peter Stamm verknüpft verschiedene Perspektiven. Er erzählt sachlich, präzise, illusionslos, schildert Gillians Entwicklung mit kühler Genauigkeit und verzichtet auf psychologische Hintergründigkeit, gibt seinen Figuren bezeichnenderweise kein wirkliches Gesicht. Er weckt Neugier und Assoziationen und erzeugt damit eine wachsende innere Spannung. Der Leser bleibt bis zum Schluß in der Rolle eines Zuschauers, der gebannt darauf wartet, wie Jill sich entscheidet.
Peter Stamm *1963, Schweizer Autor und Journalist, lebt in Winterthur
Peter Stamm "Nacht ist der Tag"
S.Fischer Verlag 2013, 252 Seiten, 19.99 Euro
eBook 17,99 Euro, Audiobook 24,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Peter Stamm
"Weit über das Land"
"An einem Tag wie diesem"