Jan-Philipp Sendker
Am anderen Ende der Nacht
Der kleine David ist ein hübscher, aufgeweckter Junge, vier Jahre alt, dunkle Locken, strahlend blaue, asiatische Augen. Ein "Gweilo", ein weißer Ausländer. Sein Vater Paul tanzt mit ihm auf dem "Platz des Volkes" in Sichuan. Paul lebt mit Frau und Sohn in Hongkong, sie sind auf einer Chinareise.
Das neue China
Maos Kulturrevolution liegt nicht lange zurück, die Menschen verehren den Großen Vorsitzenden noch immer, bejubeln singend das neue China. Paul stammt ursprünglich aus Deutschland, seine Frau ist Chinesin. Im Zoo begegnen sie hohen Parteifunktionären, eine ihrer Frauen nimmt David ins Visier. Wenig später wird er entführt – und ein paar Tage später heimlich zurückgebracht von denen, die ihn betreuen sollten und damit ihr Leben riskieren.
Notfalls mit Gewalt
Eine fast unglaubliche Geschichte, die Sendker später belegt. In China gab es Menschenhandel, reiche und mächtige Funktionäre nahmen sich, was sie wollten, notfalls mit Gewalt, auch Kinder. Ergebnis der rigiden Ein-Kind-Politik. Ein Albtraum beginnt, denn die Familie ist in großer Gefahr, die "Bonzen" lassen sich nicht austricksen. Ein guter Freund, früher Polizist, dann buddhistischer Mönch, organisiert die Flucht nach Peking, denn nur in der amerikanischen Botschaft werden die drei Sicherheit finden.
Jeder gegen jeden
Eine dramatische Flucht quer durch China beginnt, Sendker verknüpft Fiktion und Realität, führt den Leser in ein typisches chinesisches Dorf, in dem der kranke Luo, ein alter Mediziner, den gewaltsamen Tod seines Sohnes betrauert und seinen Enkel vor noch mehr traumatischen Erlebnissen bewahren will – vergebens:
"Natürlich bespitzelten die Nachbarn ihn … Jeder misstraute jedem. So war es früher, so war es heute. Vermutlich mussten sie nicht einmal dafür bezahlen. … Denunziation gab es kostenlos. Konnte nicht schaden, bei der Polizei einen Gefallen gut zu haben."
Auch der Enkel gerät ins Visier der Polizei, muss fliehen, landet mit der Familie in einer Geisterstadt, die für zigtausende von Menschen gebaut wurde, aber nahezu unbewohnt ist.
Zivilcourage
Den reinen Sozialismus gab es auch in China nicht, wohl aber Schlupflöcher für Menschen, die dem Staat nützlich waren. Die Polizeischergen sind nicht abzuschütteln, selbst im Kloster begegnen die Flüchtenden Korruption und Lüge und trotz ständiger Bespitzelung und Bedrohung doch immer wieder Menschen, die den Mut und die Zivilcourage haben, ihnen weiterzuhelfen und sich damit der möglichen Verfolgung durch ein totalitäres Regime auszusetzen. Ein Regime, das bis in die Verästelungen religiöser Bekenntnisse reicht. Der Abt des Klosters, in dem sie kurzfristig Unterschlupf finden, fordert Geld und Schmuck für ein paar Stunden Ruhe:
"Sie kommen offensichtlich nicht aus China. Sicherheit ist hier nämlich ein rares Gut. Ich würde sogar behaupten, es gibt sie nicht … Christine verstand, dass alle Versuche, ihn zu überzeugen oder mit ihm zu verhandeln, keinen Sinn hatten. Sie waren ihm ausgeliefert. Es galten seine Bedingungen."
Realität und Fiktion
Ein packender Roman, mit dessen fiktiver Handlung Jan-Philipp Sendker Fakten über und Erfahrungen in China verknüpft, sodass nicht nur eine dramatische Geschichte erzählt wird, sondern auch ganz viel über ein hierzulande immer noch schwer begreifbares Land, in dem Freiheit eine Illusion ist.
(Christiane Schwalbe)
Jan-Philipp Sendker *1960 in Hamburg, lebt mit seiner Familie in Potsdam/Babelsberg. Er war 10 Jahre lang erst Amerika- und dann Asien-Korrespondent des "Stern". "Am anderen Ende der Nacht" ist der letzte Teil seiner China-Trilogie (2007 "Das Flüstern der Schatten", 2009 "Drachenspiele").
Jan-Philipp Sendker "Am anderen Ende der Nacht"
Roman, Blessing Verlag 2016, 352 Seiten, 19,99 Euro
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