Jenny Erpenbeck
Gehen, ging, gegangen
"Ohne Erinnerung war der Mensch nur ein Stück Fleisch auf einem Planeten", denkt Richard, als ihm ein junger Tuareg davon erzählt, wie die Karawanen in der Wüste ihre Wege an den Geschichten erkennen, die abends am Feuer erzählt werden.
Fragen an Flüchtlinge
Der emeritierte Altphilologe langweilt sich in seinem Haus am See, in dem er nach dem Tod seiner Frau allein lebt, zwar nicht ganz, auch hat er langjährige Freunde, aber er spürt, dass ihm sein Leben fremder geworden ist, und er hat Fragen. Von den jungen Männern, die sich auf dem Oranienplatz in Berlin verschanzen, um mit einem Hungerstreik gegen ihre drohenden Abschiebungen und ihr elendes Dasein als Flüchtlinge zu protestieren, fühlt er sich angezogen, will, angetrieben vom lebenslangen Wunsch nach Erkenntnis, mehr über sie wissen, entwickelt einen Fragenkatalog und beginnt, sie in der provisorischen Notunterkunft zu besuchen.
"Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr herausgefallen sind. Oder in sie hineingesperrt, wenn man so will."
Grauenvolle Erinnerungen
Mit der Figur dieses Richard, eines freundlichen, interessierten Mannes, gelingt Jenny Erpenbeck eine Annäherung an die Erfahrungen und Lebensumstände von Flüchtlingen, die es so noch nicht gab: Da ihm jegliche 'gutmenschliche' oder auch selbstbespiegelnde Aufdringlichkeit fremd und er mit den großen Erzählungen des Altertums, der Odyssee oder den Texten des Lukrez oder Seneca vertraut ist, hält er den notwendigen Abstand, den die jungen Männer brauchen, damit ihre Geschichten sich entfalten können. Diese knappen Berichte sind voller Grauen und Blut, und manch einer möchte die Erinnerungen, die Richard als kostbar betrachtet, abschneiden, da sie nichts als Schmerz über all ihre Verluste mit sich bringen.
Was kaum sagbar ist
Jenny Erpenbeck bringt auch das zur Sprache, was die Männer dem Wissenschaftler, den sie nicht kennen, verschweigen, das, was kaum sagbar ist und durch das Interesse, das sie durch ihn erfahren, dennoch lebendig wird; und so bekommen die Männer ein Gesicht, eine Geschichte, werden kenntlich, etwa Awad, dessen ganze Familie erschlagen wurde:
"... der Gedanke an das zersplitterte Fenster, durch das er geflohen ist, steckt in seinem Kopf, und der Gedanke an Blut steckt in seinem Kopf, und der ältere Herr setzt sich und sagt, er habe noch ein paar Fragen, wenn es möglich sei, und der Gedanke an seinen Vater steckt in seinem Kopf, und er schafft es nicht, all diese Gedanken aus seinem Kopf zu ziehen, all die Splitter stecken in seinem Kopf ... das Denken steckt in seinem Kopf wie ein zersplittertes Tier, wenn er nur einen anderen Kopf haben könnte …"
Ein Meer von Akten
Wie unerträglich das Leben ist, wenn es weder Arbeit noch die geringste Aussicht auf Zukunft gibt, wird in diesem großartigen Roman sehr anschaulich. Gerade die Perspektive eines vernünftigen Mannes, mit "Freude an dem, was gelingt, ohne ein anderes am Gelingen zu hindern", lässt die Absurditäten im Umgang mit den Flüchtlingen in grellen Farben erscheinen. Aus seinem Wunsch, den Männern beizustehen, die ebenso am Grund des Mittelmeers hätten liegen können und nun in einem "Meer von Akten" unterzugehen drohen, entwickelt sich ein anderer, genauerer Umgang mit ihnen, der durchaus auch mit den komischen Seiten von Fremdheit spielt, denn aus unseren Vorurteilen und Denkmustern gibt es eben keinen einfachen Ausstieg.
Blinde Flecken
Dennoch ist Richard selbst ein Mann mit Geschichte, der als Säugling in den Kriegswirren beinahe verloren ging – das Gespräch mit den Flüchtlingen nähert ihn auch den blinden Flecken in seiner Biografie an, leise und ganz undramatisch, und er spürt, dass er mehr tun muss als nur zu beobachten und zu fragen -
"erst heute, durch den kleinen Anteil an Wissen, der ihm nun zufliegt, mischt sich wieder alles anders und neu. Wie oft muss einer das, was er weiß, noch einmal lernen, wieder und wieder entdecken, wie viele Verkleidungen abreißen, bis er die Dinge versteht bis auf die Knochen?"
Vom Zustand der Welt
Dieses Verstehenwollen "bis auf die Knochen" hat Jenny Erpenbeck auch in ihrem neuen Roman in ihre schöne und genaue Sprache gefasst. Frei von Klischees skizziert sie individuelle Schicksale, die literarisch vom Zustand der Welt erzählen und ihr Roman gibt nicht vor, Lösungen zu kennen, die politisch gefunden werden müssen - außer der Möglichkeit, einander verstehen zu können. Und dazu trägt Literatur wie diese in hohem Maße bei.
(Lore Kleinert)
Jenny Erpenbeck *1967 in Ost-Berlin, Regisseurin und Schriftstellerin, lebt in Berlin
Jenny Erpenbeck "Gehen, ging, gegangen"
Roman, Knaus 2015, 352 Seiten, 19,99 Euro
eBook 15,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Jenny Erpenbeck
"Kairos"