Jenny Erpenbeck
Kairos
„Sie soll ihn kennen. Und er sich fremd ansehen können, durch ihre Augen.“ So wünscht es sich Hans, der verheiratete Schriftsteller, Mitte fünfzig, der die DDR als sein Land wählte, um der Naziprägung seiner Kindheit zu entkommen.
Tödliche Wirkung
Und Katharina, mit ihren 19 Jahren und dem Zeichentalent, der ihr Land fünf Jahre später abhandenkommen wird, ebenso wie ihm: „Jemanden ganz erkennen – und ganz annehmen, das hat sie sich noch niemals zuvor gewünscht.“ Manche Wünsche, wenn sie in Erfüllung gehen, entfalten eine tödliche Wirkung; damit spielt die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck auf ungeheuer eindringliche Weise, indem sie die Geschichte dieser Liebe erzählt und sie zugleich damit verbindet, wie der Niedergang und das Ende der DDR erlebt wurde.
Kairos, der glückliche Augenblick, der einen Blick in die Tiefe der Zeit erlaubt, führt die beiden am 11. Oktober 1986 zusammen, eine obsessive Liebesgeschichte beginnt, mit einem coup de foudre à la DDR. Beide versuchen, sich der fortschreitenden Zeit und den verändernden Erfahrungen zu entziehen, um die Substanz dieses einzigartigen Gefühls zu erhalten. Sie hören Musik, seine Musik, lesen, tauschen sich aus, und Katharina lernt und genießt und liefert sich seinen sexuellen Vorlieben aus.
Zerstörung der Liebe
Sie treffen sich an Orten, die es schon lange nicht mehr gibt, dem Café Arkade, den ‚Offenbachstuben‘, im ‚Ganymed‘ gleich neben dem Berliner Ensemble, in Moskau, für eine einzige glückliche Woche. Denn Hans ist verheiratet, hatte immer auch Geliebte, hält das Zusammenleben mit Katharina nicht lange aus, und noch bevor sie nach einem Jahr für ein Praktikum ans Theater von Frankfurt/Oder geht, wird er wieder zu Frau und Kind ziehen und sich nach ihr sehnen.
„Unseren Vorrat an Glück kann uns niemand mehr nehmen, sagt Hans, Katharina sagt: Nein. Selbst wenn ich jetzt sterben würde, sagt er, hättest du alles dies immer noch und für immer. Aber du stirbst nicht. Nein, sagt er und zieht an seiner Zigarette, ich lebe…Nur wenn das alles einen doppelten Boden hätte, wären wir wirklich geliefert.“
Als er den doppelten Boden als Verrat zu erkennen glaubt, beginnt er eine Zerstörung der Liebe, deren Intensität die junge Frau in einen verzweifelten Kampf um die verlorene Nähe hineinzieht und sie an die Grenzen der Selbstzerstörung, aber zugleich auch zur Wiedergewinnung ihrer selbst treibt. Gezweifelt hat er schon von Beginn an, sich gefragt, ob er sich nicht aus Einsamkeit ein schönes und junges Spiegelbild geschaffen hat, eine Frage, die so viele literarische Bezüge ermöglicht. Auch die Verweise auf kulturelle Chiffren und Persönlichkeiten aus dem Leben der gebildeten Schicht der DDR verorten diese Geschichte einer Liebe als einzigartig. Dies alles erschafft die Autorin wie eine Rekonstruktion: Aus den Kartons mit Briefen, Notizen, Artikeln, Fotos, die Katharina nach Hans‘ Tod gebracht worden sind, gewinnt sie den Rahmen, in dem sich die Blickwinkel der beiden kreuzen, begegnen, abstoßen. „Vor langer Zeit haben die Papiere, die aus seinen Kartons und die aus ihrem Koffer, einen Dialog miteinander geführt. Jetzt führen sie einen Dialog mit der Zeit.“
Trugbilder der Erinnerung
Immer stellt sich dabei auch die Frage nach der Wahrheit der Erinnerung, nach dem, was die Dokumente verschweigen, was trügerisch bleiben muss für immer, nach dem unauflöslichen Rest, jenseits aller Zeugnisse. Mit Klugheit, Herzblut und brennendem Interesse erkundet Jenny Erpenbeck, die mit ihrer Protagonistin nicht nur den Jahrgang teilt, wie sich das Leben fortbewegt, das von Katharina, die Kunst studieren und am Theater Karriere machen wird, und das ihres geliebten und schließlich gehassten Hans, dessen Bücher nach dem Zusammenbruch der DDR niemand mehr liest. „Manchmal sieht sie sich selbst unter der Erde liegen, und sieht gleichzeitig, wie sie sich ausgräbt“ - eine der vielen klugen Beobachtungen in diesem großen Roman. Ihre verstörende Besessenheit voneinander für toxisch zu erklären, wäre, obwohl es natürlich zutrifft, zu einfach und wird dem, was möglich, aber schwer zu erreichen war (und ist), nicht gerecht:
„Da hält Hans sein Herz auf der Hand und will, dass sie es wiegt. Kommt mit seinem Schatten zu ihr, mit seiner Seele, mit seiner Trauer um den Vater, der sich damals von ihm losgesagt hat, kommt mit den Büchern, die seinen Namen tragen, und mit seinem Leib, den sie besser kennt als ihren eigenen.“
Wie in Jenny Erpenbecks früheren Romanen setzt „Kairos“ den Trugbildern der Erinnerung und der doppelbödigen Sprache Pfade durch das Labyrinth der Geschichte entgegen, aus deren Bruchstücken und Überbleibseln nicht unbedingt eine Wahrheit zu gewinnen ist. Wohl aber die Erkenntnis, dass es zwischen dem Augenblick und der langen Dauer Wegzeichen gibt, die zu sich selbst zurückzufinden helfen. Wer sich dem Schmerz noch einmal aussetzt, hat die Chance, sie zu erkennen. Als Katharina wieder einmal auf Hans wartet, denkt sie:
„Seltsam, … dass die Zeit, die an sich unsichtbar ist, nur indirekt sichtbar wird in dem, was an Unglück geschieht. So, als sei Unglück das Gewand der Zeit.“
(Lore Kleinert)
Jenny Erpenbeck *1967 in Ost-Berlin, Regisseurin und mehrfach ausgezeichnete Autorin von Romanen, Erzählungen und Theaterstücken, lebt in Berlin
Jenny Erpenbeck „Kairos“
Roman, Penguin Verlag 2021, 384 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro, AudioCD 15,39 Euro
Weiterer Buchtipp zu Jenny Erpenbeck
"Gehen, ging, gegangen"