Karen Köhler
Miroloi
Longlist Deutscher Buchpreis 2019
Wäre Karen Köhlers Erstlingsroman nicht auf der Longlist für den deutschen Buchpreis 2019 gelandet, die zum Teil vernichtenden Kritiken wären, so ist zu vermuten, weniger drastisch ausgefallen. Denn dieser Preis will schließlich den besten Roman des Jahres auszeichnen.
Gegen alle Widerstände
"Miroloi" – so ein empörter Kritiker – sei allenfalls ein naives Jugendbuch für Leserinnen ab 14 Jahren, das sich als Erwachsenenlektüre tarnt … Dieses Buch provoziert ganz offensichtlich – und das macht die Geschichte des Findelkinds, das dem Betvater auf einer fiktiven Insel irgendwo im Mittelmeer vor die Tür gelegt wird, so spannend.
"Welches Unglück hat dich hier angeschwemmt Wer ist deine Mutter und wer dein Vater? Soll ich dich behalten? Soll ich dich weggeben? Aber wohin … ich wusste, ich würde dich behalten. Gegen alle Widerstände des Dorfes behalten."
Solange "mein Mädchen", das keine Herkunft hat, also auch keinen Namen tragen darf, in seiner Obhut heranwächst und von morgens bis abends im Haushalt und auf dem Feld schuftet, ist es weitgehend beschützt. Aber es bleibt eine ungeliebte Außenseiterin.
Tausend Augen
Inzwischen ist es eine junge Frau, 16 Jahre alt, der Weg ins "Schöne Dorf" ist eine Qual, denn sie wird als "Eselshure, Schlitzi, Nachgeburt der Hölle" beschimpft und gedemütigt, für jedes Unglück verantwortlich gemacht, egal, ob schlechte Ernte, Unwetter, lahmender Esel, Krankheit oder zerbrochenes Geschirr. Als sie weglaufen will, man ihr zur Strafe das rechte Bein zertrümmert und sie hinkt, ist der Spießrutenlauf noch schlimmer.
"Unser Dorf hat tausend Augen, die sehen alles, alles, alles. Unser Dorf hat Nasen, die riechen sich bis in deine Seele, schnuppern das letzte Geheimnis aus dir heraus. Und was die Augen nicht sehen und was die Nasen nicht riechen, das hören die Ohren. … Unser Dorf hat hundertfache Münder, die plappern, zischeln, schnalzen und flüstern immerfort … Wahrheit ist ein Band, geflochten aus Hunderten von Zungen. So ist unser Dorf."
Teufelszeug von "drüben"
Es ist eine archaische, von Männern beherrschte und von der Außenwelt abgeschottete Gesellschaft, in der eherne Gesetze den Frauen Bildung verbieten. Sie dürfen nicht lesen, schreiben und schwimmen lernen, die Männer nicht kochen und singen. Aber saufen und ihre Frauen grün und blau prügeln, das dürfen sie. Auch der Lehrer kann sich an seinen Schülerinnen vergehen, wann immer er Lust dazu hat. Nur dem droht echte Strafe, der sich den von einem Ältestenrat verfassten und uralten Traditionen folgenden Gesetzen widersetzt; oder den Vorschriften der "Khorabel", dem heiligen Buch, nicht gehorcht.
"Das ist wie eine Kette, die Frauen gehorchen den Männern, die Söhne und Töchter den Vätern, die Männer dem Gesetz. Brichst du das Gesetz, wirst du am Pfahl bestraft … "
Gesetze brechen Frauen schon dann, wenn sie mit dem namenlosen Findelkind sprechen, sich Strom auf der Insel wünschen oder solches Teufelszeug wie Fernseher und Ventilator. Das gibt’s nur in der gefährlichen, weil fortschrittlichen "Drübenwelt", von der Schiffe kommen und Haushaltswaren bringen, Lebensmittel, den Arzt. Und Olivenöl, Schnaps und Wein im Tausch mitnehmen.
Rebellische Außenseiterin
Die außergewöhnliche junge Frau ist rebellisch, eigensinnig, mutig und zäh. Zwei Frauen und der Betvater sind ihre Verbündeten, er bringt ihr Lesen und Schreiben bei, mit der alten Mariah lernt sie schwimmen, mit der jungen Sofia ihren Körper kennen. Und als sie sich verbotenerweise verliebt, bekommt sie eine Ahnung davon, was Freiheit und Glück im Leben bedeuten und wie sehr Bedürfnisse unterdrückt werden.
"Dieses Dorf ist nicht das Tor zur Hölle, es ist die Hölle selbst … wie kannst du in diesem Dorf leben und nicht schlecht werden ...… und ich frage mich, wie unser Leben, unser Dorf, unsere Welt wäre, wenn Sofia und ich die Gesetze machen würden."
Jenseits der Normalität
Karen Köhler, die schon in ihrem erfolgreichen Erzählband "Wir haben Raketen geangelt" eindrucksvoll über Frauen schrieb, die aus der Normalität herausgefallen sind, beobachtet auch in "Miroloi" mikroskopisch genau – religiösen Fanatismus, überholte Traditionen, fundamentalistische Gesellschaften, bedingungslose Unterwerfung der Frauen, die Ablehnung jeglichen Fortschritts. Das fordert Assoziationen mit diktatorischen Systemen heraus und das soll es auch.
Ihr "Miroloi" – ein griechisch-orthodoxer Totengesang von Frauen – folgt in 128 Strophen mit einer eigenen, ungewöhnlichen Rhythmik der einfachen, klaren und kindlich-naiven Sprache ihrer Protagonistin, die als ununterbrochen Lernende konsequent ihren Weg geht. Ob "Miroloi" als bester Roman des Jahres gelten kann, ist fraglich. Aufmerksamkeit verdient dieses eigenwillige Buch allemal.
(Christiane Schwalbe)
Karen Köhler *1974 in Hamburg, Schauspielerin, Illustratorin und Autorin von Theaterstücken, Drehbüchern und Prosa, lebt in Hamburg
Karen Köhler "Miroloi"
Roman. Hanser Verlag, 464 Seiten, 24 Euro
eBookm 17,99 Euro, AudioCD 21,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Karen Köhler
"Wir haben Raketen geangelt"