Ludwig Laher
Bitter
Am Anfang stand ein orangefarbener Aktenordner. Das umfangreiche Material eines Forschers war der Anstoß für Ludwig Laher, die Geschichte eines vielfachen Kriegsverbrechers zu schreiben – mit verändertem Namen zwar, aus dramaturgischen Gründen etwas verknappt, aber ohne etwas dazu zu erfinden.
Zum Leben erweckt
Friedrich Bitter, das "gewissenhaft zusammengetragene Produkt von Dokumenten und Selbstzeugnissen, von Erinnerungen der Lebenden und der Toten" wird zum Leben erweckt, ein Mann, auf den kein Verlass und der in der Lage ist, jeden um den Finger zu wickeln. Wie anders hätte es ihm gelingen können, nach dem Krieg seine Verbrechen als Gestapochef und SS-Sturmbannführer in Wien, Charkow und Verona zu vernebeln, ja, sich sogar als Verfolgten darzustellen?
Mit scharfem Blick
Ludwig Laher blättert den Lebensweg dieses Täters durch alle Dokumente und Zeugnisse hindurch auf, mit dem Blick des Schriftstellers, der Bitters Tricks kennt und durchschaut; und weil er um seine Verbrechen weiß, skizziert er einen zielstrebig angelegten Lebenslauf – mit bösem und scharfem Blick:
1941 wird dem Vater zweier kleiner Töchter und seit zwölf Jahren verheirateten Ehemann, "Herrn Regierungsrat SS-Sturmbannführer Dr. Friedrich Bitter zum Beispiel mühelos das Kunststück gelingen, auf von vier Seiten seines maschinengeschriebenen, ansonsten penibel verfassten Lebenslaufs den Eindruck zu erwecken, die Erschaffung des Weibes aus Adams Rippe stünde noch bevor. Solche Geschöpfe scheint es für ihn überhaupt nicht zu geben."
Immer im Mittelpunkt
Da hat Friedrich Bitter bereits einen rasanten Aufstieg hinter sich: Als Klassenbester erzwingt er das Abitur in Linz, wo 20 Jahre früher ein gewisser Adolf Hitler unterrichtet wurde. Als Tausendsassa und Frauenschwarm lässt er sich feiern, der sich vom Polizisten zum Juristen hocharbeitet und aus dem Burschenschaftermilieu zur illegalen Polizeitruppe der NSDAP wechselt. Als die Nazis Oberwasser bekommen, steht Bitter als Hauptscharführer SS bereit und wird Gestapochef von Wien - ein geschätzter Organisator mit Zuverlässigkeit und Härte. Und unaufhaltsamem Aufstiegswillen.
"...der Beruf, das Wohlergehen der neuen Ordnung sind wie gehabt sein Ein und Alles, abgesehen von den Weibern und von üppigen Feiern natürlich. Bitter muß, scheint es, permanent Vollgas geben und möglichst ohne Unterlass im Mittelpunkt stehen."
Vollstrecker des Massenmords
Der Autor lässt uns, die Leser, aus Fritz Bitters Blickwinkel an seiner Sicht der Dinge teilhaben. Weil er nicht als kleiner Provinzführer verkümmern will, betrachtet er den “Deutschland aufgezwungenen Krieg“ als Segen. Mit Hilfe von Heydrich und Himmler kommt seine Karriere dann so richtig in Schwung – er leitet die größte Gestapodienststelle im Reich, souverän, wie nicht anders zu erwarten, und um Geständnisse zu erzwingen, legt er auch gern selbst Hand an. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wird er als Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Charkow zum Vollstrecker des Massenmords.
"Sage und schreibe fünfmal so groß wie der Rote Platz in Moskau, entsprach das weitläufige Areal jener architektonischen Monumentalität, die Nationalsozialisten und Stalinisten in gleicher Weise als ästhetisches Nonplusultra vorschwebte. Die Menschen da draußen verkamen programmgemäß zu Ameisen, und Bitter verfuhr mit ihnen exakt so, wie mit den zur Plage gewordenen Insekten gewöhnlich verfahren wird."
Ohne Anklage und Strafe
Warum die Taten, die er in Italien ebenso effektiv fortsetzte, nach dem Krieg weder angeklagt noch bestraft wurden, gehört zu den zentralen Fragen dieses Buchs: Ludwig Laher lässt sie nicht unbeantwortet, macht aber aus seiner Fassungslosigkeit über die Vertuschung dieser Verbrechen keinen Hehl. Bitter steht zwar vor Gericht, streitet aber alles ab; er lügt, eine Leitstelle Charkow habe es nie gegeben, bearbeitet Zeugen, nutzt die prinzipiell wohlwollende Stimmung in der österreichischen Justiz. Österreich selbst sei Opfer der Nazis gewesen, und die Ergebnisse russischer Ermittlungen vor Ort will man nicht so genau wissen.
Zehn Jahre, nachdem Bitter in Charkow regelmäßig die Leichenberge der Ermordeten verbrennen ließ, ist er als Inspektor einer Brandschadenversicherung wieder bestens im Geschäft. Einer von sehr vielen, wie wir heute wissen. Es ist das große Verdienst von Ludwig Lahers Roman, am Beispiel dieses Einzelnen deutlich zu machen, wie es dazu kam.
(Lore Kleinert)
Ludwig Laher *1955 in Linz, österreichischer Lehrer und Schriftsteller, lebt in Oberösterreich
Ludwig Laher "Bitter"
Wallstein-Verlag 2014, 237 Seiten, 19,90 Euro, eBook 15,99 Euro