Marina Caba Rall
Esperanza
"Wie konnte man wissen, wie real eine Erinnerung war? Wie viel davon Verzerrung und wie viel reine faktische Realität?" Der Wissenschaftler Juan begeistert sich für Fragen wie diese, denn er weiß, dass Erinnerung ein kreativer Prozess ist und das, was man für gesichert hält, bei jedem Abruf aus dem Gedächtnis mit Auslassungen und Hinzufügungen neu überschrieben und ausgeschmückt wird.
Schrecken der Diktatur
Doch als er erfährt, dass seine Mutter nicht tot ist, und der Mann, den er für seinen Vater hielt, eigentlich sein Halbbruder ist, geraten seine Überzeugungen ins Wanken. Die Mutter, die er aufsucht, hat eine Familie in Berlin. Vor vielen Jahren verließ sie Spanien, um die Schrecken der Diktatur und ihre persönlichen Traumata zu vergessen. Und zu verschweigen.
"Ich war glücklich und wollte nichts mehr von all dem anderen wissen... Und danach war ich zu verliebt, der richtige Zeitpunkt war vorbei. Ich hatte ihn verpasst wie eine Haltestelle, an der man vorbeifährt und die sich dann jahrelang im Umbau befindet, bis man schließlich ganz vergisst, dass man irgendwann da hätte aussteigen wollen."
Das große Schweigen
Marina Caba Ralls Roman beschreibt, was der jähe Einbruch der Vergangenheit auslöst: Esperanzas Tochter Karla erzwingt, ihre Mutter auf der Reise nach Spanien zu begleiten, an den Ort, wo sie miterlebte, wie ihr Onkel noch nach dem Ende des Bürgerkriegs ermordet wurde. Hier treffen die versprengten Geschichten aufeinander, denn der verlorene Sohn Juan gehört zum Team, das die verscharrten Toten aus ihren Gräbern birgt und identifizieren soll. Auch in Spanien dauerte das große Schweigen über Verbrechen und Schuld sehr lange an. Den Weg zum Grab bei den drei Steineichen muss Esperanza weisen, für sie eine Reise zurück, in die Zeit vor ihrem Leben als Gastarbeiterin und ihrer Flucht nach Deutschland.
In Schuldgefühle verstrickt
Die Autorin nimmt sich Zeit, die Perspektiven der einzelnen sorgfältig zu entwickeln, ohne dass sie sämtliche Leerstellen auffüllt. Insbesondere die Tochter Karla muss erkennen, wie wenig Halt sie in ihrem Leben als vagabundierende Möchtegern-Künstlerin fand, weil das Schweigen ihrer Mutter sie in Schuldgefühle verstrickte.
"Als Kind habe ich gedacht, du hättest meinetwegen versucht, dich umzubringen, weil ich immer alles verkehrt gemacht hab und…Ihre Mutter starrte sie entsetzt an. Karla! Kind, wie konntest du nur so etwas denken! Karla wandte sich ab. Ich hab immer nur neben mir gestanden, immer nur Mist gebaut, Miguel, der hat sich immer fein rausgezogen, aber ich…"
Veränderte Perspektiven
Die Atmosphäre im kleinen spanischen Ort wirkt, schön beschrieben, wie ein Mosaik, das wertvolle Steine zum Leben der Protagonisten beisteuern kann. Wie sie das Bild verändern, müssen die drei selbst in die Hände nehmen, doch Marina Caba Rall deutet in ihrem ersten Roman die Spielräume an, die sich durch die veränderten Perspektiven auftun. Ihre Arbeit als Drehbuchautorin und Regisseurin lässt die einzelnen Szenen sehr räumlich und präsent wirken.
Kultur als Mosaik
Ein Roman ohne die gängigen Klischees um Integration, ein Begriff, den die Autorin im Interview meidet, da sie beide Länder und Kulturen gut kennt:
"Ich würde lieber von Interaktion sprechen. Das bedeutet, es wird keine einseitige Anpassung verlangt, sondern es entsteht ein Miteinander in diverse Richtungen. Jede Kultur ist ein Mosaik, das aus wertvollen, schönen, überflüssigen und furchtbaren Elementen besteht."
(Lore Kleinert)
Marina Caba Rall *1964 in Madrid, aufgewachsen in Tübingen, Journalistin, Regisseurin und Drehbuchautorin
Marina Caba Rall "Esperanza"
Roman, Wagenbach 2016, 224 Seiten, 19,90 Euro