Jakob Hein
Kaltes Wasser
Ein wegweisender Satz im Leben des Friedrich Bender: "Mein Leben begann als statistische Ausnahme"- eigentlich wollten seine Eltern kein Kind mehr. Er kam trotzdem zur Welt und erwies sich schon im Kindergartenalter als todesmutig.
Streng sozialistisch
Die Familie lebt in der DDR nach streng sozialistischen Grundsätzen, die Eltern sind in der Partei - in DER Partei, "obwohl es aus scheindemokratischen Gründen sogar noch ein paar andere Parteien gab." Um seiner Schwester zu beweisen, dass er vom Schwimmen nicht nur redet, sondern es auch kann, wirft er sich ins Wasser, ohne ein Schwimmbecken je gesehen zu haben, und schwimmt.
Schöne neue Welt
Friedrich wird in der dritten Klasse für das Amt des Agitators vorgeschlagen und erfindet wilde Geschichten vom Kampf gegen den Imperialismus,
"sie unterschieden sich nicht wesentlich von den vielen zurechtgebogenen und erfundenen Meldungen aus dem Neuen Deutschland",
nur waren sie unterhaltsamer. Dann fällt der "Schutzwall des Sozialismus" und macht Friedrich zu einem "jungen Erwachsenen mit zwei Pflegefällen im eigenen Haus." Die linientreuen Eltern verkraften die Wende nicht, erstarren buchstäblich und verweigern sich der neuen Realität. Friedrich indes genießt diese schöne neue Welt nicht nur, er durchschaut ihr System und macht es sich zunutze. Auf dem Tauschmarkt verschafft er sich ein beachtliches Startkapital und eröffnet in der Kollwitzstraße eine Szene-Kneipe – in einem alten NVA-Bus.
Lücken im System
Die Kneipe im Bus ist nur der Anfang eine Reihe von abenteuerlichen Unternehmungen in diesem vergnüglichen Schelmenroman, in dem Friedrich als gewitzter Ossi die kapitalistischen Grundprinzipien der Wessis benutzt, sich bluffend und schwindelnd durchs Nachwende-Leben mogelt, dabei jede Lücke im System solange ausnutzt, bis es brenzlig wird, und er sich die nächste Nische sucht, zum Beispiel in der Versicherungsbranche, sie
"erschien mir als eine der faszinierendsten Kreationen des Kapitalismus … die weitaus meisten Kunden wollten ihr eingezahltes Geld nie wiedersehen, ohne je etwas dafür erhalten zu haben".
Er hat auch hier Erfolg, nur bei der Diplomprüfung nutzen ihm seine Hakenschläge nichts, der Professor durchschaut ihn.
Täuschung erlaubt
Jakob Hein, der selbst in der DDR geboren und dort aufgewachsen ist, hat in bewährt ironischer Erzählweise und mit geschultem Blick für "Typen"und sozialistischen Lebensalltag einen Helden erschaffen, der die Mechanismen von Macht und Geld spiegelt, die deutsche Bürokratie vorführt, die Leichtgläubigkeit von Menschen entlarvt, die sich gern einlullen lassen, und ein System enthüllt, das jede Täuschung erlaubt. Er schummelt und trickst, was das Zeug hält und schafft es bis in die Welt der Reichen und Schönen. Aber trotz all' seiner Talente bleibt er einsam, und schließlich kommt ihm doch einer auf die Schliche, denn "das Internet ist schon unglaublich. Da stehen Informationen drin, an die man früher nicht herangekommen wäre." Auch ein Glücksritter macht mal Fehler und findet in Schweden seine Wurzeln – als Bademeister, der Kindern den Sprung ins kalte Wasser beibringt. Früh übt sich …
(Christiane Schwalbe)
Jakob Hein "Kaltes Wasser"
Roman, Galiani Berlin 2016, 240 Seiten, 18,99 Euro
eBook 16,99 Euro
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